# taz.de -- Post-DDR-Roman von Anne Rabe: Mit tiefer Verletzlichkeit
> Anne Rabe analysiert Familienstrukturen und übt Systemkritik. Ihr
> Debütroman „Die Möglichkeit von Glück“ ist ein heftiges Buch.
IMG Bild: Die Realität sah anders aus. Propaganda in der DDR
Frauen meiner Generation, jene, die ihre Kindheit und Jugend in der DDR
verbracht hatten und jetzt zwischen 50 und 60 Jahre alt sind, kämpften als
Heranwachsende nicht selten mit autoritären Vätern. Mit Männern, die zu
wissen glaubten, was für ihre Töchter gut und richtig ist.
An den Abendbrottischen fielen Sätze wie: „Du studierst Pädagogik, das ist
was Reelles, Schauspielerei ist doch nix als Blödsinn.“ „Um 7 abends bist
du zu Hause, und mit diesem Motorradtypen triffst du dich nicht mehr.“
„Was? Mit deinen Freunden [1][an die Ostsee]? Kommt überhaupt nicht in
Frage, du kommst gefälligst mit in den Garten.“
Und so langweilten sich zahlreiche (post)pubertierende Mädchen im Sommer in
der Kleingartenanlage, stets unter dem Kontrollblick der hektischen Eltern
und zusammen mit den jüngeren Geschwistern. Während manche ihrer
Freundinnen am Ostseestrand lagen und nachts am Lagerfeuer zur Gitarre
„[2][Am Tag, als Conny Kramer starb]“ sangen.
Die Mütter der Frauen meiner Generation, ausgelastet mit Fulltime-Job,
Haushalt und Gattenpflege, hielten sich meist raus, wenn der Vater
kommandierte, schulmeisterte, brüllte. Sie waren geübt darin, nicht
aufzubegehren, eigene Wünsche zu unterdrücken – und zu schweigen.
In Anne Rabes Roman „Die Möglichkeit von Glück“ ist es genau umkehrt. Dort
ist die Mutter der autoritäre Teil der Familie, mehr noch, sie ist eine
weibliche Gewaltmaschine, die Tochter und Sohn prügelt, mit zu heißem
Badewasser quält, die Kinder verbal misshandelt. Der Vater ist zwar nicht
ganz so schweigsam wie die Mütter meiner Generation, aber doch recht
schwach.
## Kindheit von der Seele schreiben
Rabes Debüt ist ein heftiges Buch. Die Autorin eilt auf 384 Seiten von
einem Gewaltexzess zum nächsten. Nicht wenige der beschriebenen Erfahrungen
hat sie selbst als Heranwachsende machen müssen. Und so ist „Die
Möglichkeit von Glück“, auch wenn „Roman“ auf dem Cover steht“, vor allem
eine Analyse familiärer Strukturen, wie es sie zuweilen in der DDR gab,
sowie Systemkritik.
Die Ich-Erzählerin Stine ist Rabes Alter Ego. Beim Lesen wird man das
Gefühl nicht los, dass die Autorin sich ihre Kindheit im buchstäblichen
Sinne von der Seele schreiben musste. Um im eigenen Leben anzukommen.
Stine war – so wie Anne Rabe – drei Jahre alt, als die Mauer fiel. Die
Eltern, stramme DDR-Funktionierende, waren komplett mit sich und dem
Untergang des Landes beschäftigt, dem sie sich vollständig ergeben hatten.
Wie schwer der Übergang von der alten sozialistischen in die neue Welt der
Marktwirtschaft für sie gewesen sein musste, erzählt eine Szene, in der das
zehn Jahre alte Mädchen mit seinem Vater im roten Opel Kadett auf einem
Parkplatz eines Einkaufscenters sitzt, in dem Mutter und Bruder gerade
unterwegs sind.
Der Mauerfall liegt sieben Jahre zurück, die Ostdeutschen haben sich mehr
oder weniger mit dem Westen arrangiert, zumindest versuchen die meisten,
sich selbst im neuen System zu verorten. Aber Stines Vater erklärt dem Kind
mit nostalgischem Impetus ein Gesellschaftssystem, über das sich in der DDR
nahezu alle als ideologischen Unsinn lustig machten.
„Im Kommunismus“, referiert der Vater, „sind alle Menschen gleich und
verdienen das gleiche Geld. Eigentlich braucht es im Kommunismus überhaupt
kein Geld mehr. Das wird dann wahrscheinlich abgeschafft.“ „Und was ist mit
dem Sozialismus?“, fragt die Tochter später. „Der Sozialismus ist die
Vorstufe vom Kommunismus. Das war die DDR.“
## Sprachrohr des Regimes
Der Vater als Sprachrohr des überkommenen Regimes auch noch nach dessen
Untergang – diese Szene verdeutlicht Rabes Anspruch, gleichermaßen
Familiengeschichte und Historienbewältigung zu bündeln, mit einer Härte,
die nachvollziehbar, aber auch befremdlich wirkt.
Wer die Autorin Rabe trifft, mit ihr spricht, ihren Erinnerungen und
Reflexionen folgt, der trifft auf eine Frau, die souverän und offen
erscheint, dahinter ist aber eine tiefe Verletzlichkeit und Zartheit zu
spüren. Eine Frau, die selbst Mutter ist, die sich offenbar einen Panzer
zugelegt hat, der sie vor weiterer Gewalt schützen soll. Möglicherweise
brauchte die Autorin das Niederschreiben ihrer Sicht auf ihre
Herkunftsfamilie, auf die DDR, auf die Diktatur, um sich von der
mütterlichen Gewalt loszusagen und sich von ihrer früheren Biografie zu
distanzieren.
Die große aktuelle Aufmerksamkeit für Anne Rabes Buch ist in zweifacher
Weise bemerkenswert. Einerseits weil „Die Möglichkeit von Glück“ in die
Zeit einer DDR-Nostalgie und der Frage fällt, was mit dem Osten eigentlich
los ist.
Da sind der Rechtsextremismus und der Zuspruch zur AfD, beides in den noch
immer „neuen“ Bundesländern besonders ausgeprägt, und die Suche nach der
Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Da ist die Klage des
Literaturprofessors Dirk Oschmann, dass „Der Osten“ „eine westdeutsche
Erfindung“ sei (so der Titel seines Traktats), sowie der Wälzer „Diesseits
der Mauer“ der Historikerin Katja Hoyer, die eine infantil gefärbte
vermeintlich „neue Geschichte der DDR 1949–1990“ vorgelegt hat.
## Das Gute im Menschen
Bemerkenswert ist außerdem, dass etwa die Juror:innen zum Deutschen
Buchpreis ganz aktuell offenbar ein Interesse an Gewalterzählungen aus dem
sozialen Nahbereich entdeckt haben. [3][Auf der Shortlist des Preises steht
jetzt neben Anne Rabe] auch die Autorin [4][Terézia Mora], die in ihrem
neuen Roman „Muna oder die Hälfte des Lebens“ eine Frau zu spät erkennen
lässt, dass sie in einer Gewaltbeziehung lebt.
Wer Rabes „Möglichkeit von Glück“ liest, braucht einen langen Atem und
ausreichend Kraft. Und den Glauben an das Gute im Menschen. Hilft das Buch,
diesen Glauben zu behalten? Immerhin kann man offenbar Gewaltverhältnisse
reflektieren und sie so möglicherweise auch hinter sich lassen.
Die Debatte um den Osten, um diktatorische Strukturen und deren Folgen ist
noch lange nicht beendet.
24 Sep 2023
## LINKS
DIR [1] /Kolumne-Generation-Camper/!5019542
DIR [2] https://youtu.be/OD8-q-Zey7Q?si=mjssrcjWubahtCdj
DIR [3] /Shortlist-zum-Deutschen-Buchpreis/!5958234
DIR [4] /Autorin-ueber-Zugehoerigkeit-und-Buecher/!5747643
## AUTOREN
DIR Simone Schmollack
## TAGS
DIR Literatur
DIR DDR
DIR Kindheit
DIR Mütter
DIR Coming-of-Age
DIR Deutscher Buchpreis
DIR Roman
DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
DIR Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
DIR Literatur
DIR Rechtsextremismus
DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse
DIR Literatur
DIR Landwirtschaft
DIR Schwerpunkt Wahlen in Berlin
DIR Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Roman Ehrlichs Roman „Videotime“: Der Horror in der Kleinstadt
In Roman Ehrlichs Gesellschaftsporträt blickt der Erzähler auf seine Jugend
zurück. Das seltsame Verhalten der Erwachsenen erklärt er sich mit
Actionfilmen.
DIR Debatte um Ostidentität: Haste was, biste was
Zur Identität Ostdeutscher gehört, weitgehend besitzlos zu sein. Eine
Ergänzung zum Essay über Ostidentität von taz-Redakteurin Simone
Schmollack.
DIR Gespräche über Ost und West: Trinken und reden
Der Buchtitel ist Programm. Die Ost-Autorinnen Annett Gröschner, Peggy
Mädler und Wenke Seemann betrinken sich und gründen den idealen Staat.
DIR Porträt des Autors Lukas Rietzschel: Osterklärer jenseits der Raster
Im Theater beschreibt Lukas Rietzschel einen AfD-Aufsteiger. In seinen
Romanen positioniert er sich eindeutig, agitiert aber nie. Ein Porträt.
DIR Schweigen über Gewalt in der DDR: Durchwachte Nächte
In ihrem Debütroman ergründet Anne Rabe, wie die Gewalt der DDR bis heute
nachwirkt. Hier berichtet sie vom Schweigen bei ihrer Lesereise.
DIR Buchpreis für Tonio Schachinger: „Feinsinnige Ironie“
Der Deutsche Buchpreis 2023 geht an Tonio Schachinger. Sein Roman
„Echtzeitalter“ erzählt die Geschichte eines Gymnasiasten im Wiener
Eliteinternat.
DIR Romane von Charlotte Gneuß und Anne Rabe: Was hast du vor 1989 gemacht?
Eine 68er-Bewegung für den Osten? Die DDR-Romane von Charlotte Gneuß und
Anne Rabe arbeiten daran. Rabe könnte den Buchpreis erhalten.
DIR Volksaufstand vor 70 Jahren: „Die Mehrheit war gegen die DDR“
Historiker Stefan Wolle über die Bedeutung des 17. Juni 1953 für Ost und
West, bewaffnete LPG-Vorsitzende und die aktuelle DDR-Verklärung.
DIR Am kürzeren Ende der Sonnenallee: Mit dem Moskwitsch in den Westen
Ein Teil der Sonnenallee lag bis zum Mauerfall im Osten. Die Ecke war öde
und grau. Eine persönliche Erinnerung an das Leben im Schatten der Mauer.
DIR Literatur zur Frankfurter Buchmesse: Auf Elternsuche
Die Beschäftigung mit Mutter und Vater dominiert neue Bücher. Es geht
weniger um Abrechnung – im Mittelpunkt steht Annäherung an das
Unverstandene.