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       # taz.de -- Lesung von Viktor Jerofejew: Ein Volk verloren gegeben
       
       > Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew las in Berlin aus seinem
       > kommenden Roman. In „Der Große Gopnik“ geht es um den Aufstieg Putins.
       
   IMG Bild: Wladimir Putin in der Schießanlage des Militärgeheimdienst GRU 2006 in Moskau
       
       Am Ende seines neuen Romans formuliert Viktor Jerofejew einen interessanten
       Gedanken. „Wir befinden uns in ungefähr derselben Lage wie im späten
       breschnewschen Kommunismus, in dem nicht der Generalsekretär der Idee
       diente, sondern die Idee ihm“, heißt es da. „Nur dass jetzt statt der
       einen, der kommunistischen Idee, unserem Zaren eine ganze Palette von schön
       verpackten Werten zu Diensten ist.“ Der Zar ist in diesem Fall nicht
       königlichen Geblüts, sondern identisch mit einem in eine Leningrader
       Fabrikarbeiterfamilie hineingeborenen Ex-KGB-Agenten.
       
       Den Aufstieg Wladimir Putins erzählt Jerofejew in seinem in Kürze
       erscheinenden Roman „Der Große Gopnik“ als Ganovengeschichte. Immer wieder
       sei er gefragt worden, was Putin für ein Mensch sei, erzählt der im
       deutschen Exil lebende russische Schriftsteller am Donnerstagabend bei
       einer Vorablesung in den Verlagsräumen von Matthes & Seitz in Berlin.
       
       Ihm sei schließlich klar geworden, dass sich das Wesen des russischen
       Präsidenten aus seiner ärmlichen Herkunft erklären lasse. Ein Gopnik, so
       führt er im Buch aus, „das ist der Proll aus dem Hinterhof“. Jerofejew fügt
       im Roman verschiedene Genres zusammen, erzählt multiperspektivisch, auch
       aus der eigenen.
       
       So erinnert er sich an die Aktion der putintreuen Jugendorganisation
       Iduschtschije wmeste, die 2002 in Moskau Menschen dazu anhielt, [1][Bücher
       kritischer Autoren] wie Jerofejew an speziellen Literaturkiosken
       zurückzugeben. Jerofejew warnte schon damals vor Bücherzerstörung: Wenn
       Putin sich Methoden aus dem Deutschland der 1930er Jahre bediene, wisse er,
       mit wem er sich vergleichen lassen müsse.
       
       ## Ein „verwundetes Buch“
       
       „Der Große Gopnik“ sei ein „verwundetes Buch“, sagt Jerofejew, der während
       der Diskussion von der Journalistin Kerstin Holm ins Deutsche übersetzt
       wird. Das Manuskript habe er vor dem 24. Februar 2022 fertiggestellt, doch
       der Ukrainekrieg habe in sein Schreiben eingeschlagen wie Geschosse. Und
       Spuren hinterlassen: Immer wieder blitzt er im Roman auf, aus dem Meike
       Rötzer vorliest.
       
       „Der Große Gopnik“ erscheint als Erstes auf Deutsch. Eine russische Ausgabe
       sei geplant, sagt Jerofejew, auch wenn sie in Russland kaum erscheinen
       könnte, ohne seinen Verleger ins Gefängnis zu bringen.
       
       Der mittlerweile 76-jährige Autor ist angesichts des russischen Einmarschs
       in die Ukraine im Frühjahr 2022 aus Russland geflohen. In seine Heimat
       möchte er irgendwann zurückkehren, doch eigentlich macht Viktor Jerofejew
       nicht den Eindruck, [2][seinen russischen Mitbürger:innen] noch viel
       Positives abgewinnen zu können.
       
       Jüngst sagte er im Interview mit dem Deutschlandfunk, Russland habe sich
       durch die Emigrationswelle seit Kriegsbeginn „von seinen besten Menschen
       befreit“, und auch in Berlin lässt er kein gutes Haar an den Russ:innen.
       
       ## Das „einfache Volk“
       
       Mit dem Aufstieg Putins habe das „einfache Volk“ eine Erhöhung erfahren,
       sagt er. Jerofejew, der als Sohn eines sowjetischen Diplomaten unter
       anderem in Paris aufwuchs, spricht von den „Ungebildeten“ und
       „Grobschlächtigen“, denen die Politik zu lang Zugeständnisse gemacht habe.
       Putin, so sagt er, sei der erste Präsident des Volkes – und das sei das
       Schlimmste, was man im Moment über Russland sagen könne.
       
       Auf Nachfrage der taz bestreitet er, eine schlechte Meinung von den
       russischen Bürger:innen zu haben. Er sei realistisch: „Ich glaube, dass
       sich die Russen für die besten Menschen der Welt halten“. Die „russische
       Seele“ zeichne sich durch starkes Einbildungsvermögen aus. Das Prinzip der
       Grenzenlosigkeit, was auch Putin vertrete, sei fest in den Menschen
       verankert.
       
       23 Sep 2023
       
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