URI: 
       # taz.de -- In Mexiko verschwundene Studenten: Der endlose Kampf gegen Lügen
       
       > Vor 9 Jahren wurden in Mexiko 43 Studenten entführt. Politik und Polizei
       > sollen verwickelt sein. Hintergründe liefern jetzt US-Drogenfahnder.
       
   IMG Bild: Cristina Bautista, Mutter eines verschwundenen Studenten, bei einer Suchaktion im Januar 2015
       
       Oaxaca taz | Benjamín Ascencio Bautista war gerade erst aus einem
       abgelegenen Dorf ins Internat gezogen. Der 17-Jährige wollte Lehrer werden,
       um später Kindern in der Region um die südmexikanische Kleinstadt Iguala
       Rechnen, Schreiben und den Gemüseanbau beizubringen.
       
       Mit anderen Studenten des Lehrerseminars Ayotzinapa macht er sich im
       September 2014 in die Kleinstadt auf. Sie wollen dort Busse
       „beschlagnahmen“, mit denen sie zu einer Demo nach Mexiko-Stadt fahren
       wollen. Eine ungewöhnliche, aber nicht unübliche Art und Weise von
       gewerkschaftlichen und sozialen Aktivist*innen, sich solche Fahrten zu
       organisieren.
       
       In seine Heimatgemeinde wird Bautista nie wieder zurückkehren. Polizisten
       stoppen die Busse, nehmen die jungen Männer fest und übergeben sie
       Kriminellen. Schüsse fallen, sechs Menschen sterben. Von Bautista und
       seinen Kommilitonen fehlt seither jede Spur.
       
       Genau [1][neun Jahre ist es her], seit die 43 Studenten in der Nacht vom
       26. auf den 27. September 2014 in Iguala verschleppt wurden. Seither suchen
       Cristina Bautista, die Mutter von Benjamín, und andere Angehörige
       verzweifelt nach ihren Liebsten. Derzeit bereitet sich die 48-Jährige
       wieder auf Aktionen zum Jahrestag vor. „Nie dachte ich, dass wir nach so
       langer Zeit nicht wissen, was mit ihnen passiert ist“, sagt sie der taz.
       Der Verlust, der ewige Kampf, die Lügen und Demütigungen der Behörden
       belasten die Mütter, Väter und Geschwister ständig.
       
       ## Gezielt falsch ermittelt
       
       Von Anfang an hatten die Angehörigen und
       Menschenrechtsverteidiger*innen Hinweise darauf, warum die
       Ermittlungen nicht vorankommen: Neben der lokalen Polizei und der
       kriminellen Organisation [2][„Guerreros Unidos“] könnten auch
       Bundespolizist*innen, die Armee und Politiker*innen auf höchster Ebene
       in das Verbrechen verstrickt sein.
       
       Recherchen einer Unabhängigen Internationalen Expertengruppe (GIEI)
       bestätigten, dass der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam
       gezielt falsch ermittelte und der oberste Polizeichef Beweise manipulieren
       sowie Gefangene foltern ließ, um eine „historische Wahrheit“ der Tatnacht
       festzuschreiben. Demnach seien die entführten Studenten auf einer Müllhalde
       von Kriminellen verbrannt worden. Die Tat sollte so auf ein lokales Problem
       reduziert werden, um zu verschleiern, was tatsächlich passiert ist.
       
       ## Drogen im Bus?
       
       Vor wenigen Wochen [3][veröffentlichte die New York Times] nun
       Informationen der US-Antidrogenbehörde DEA, die alle Befürchtungen von
       Bautista und ihren Mitstreiter*innen bestätigten. Die Fahnder hatten
       2014 rund 23.000 Textnachrichten abgefangen, die aufzeigen, dass fast alle
       Zweige der Regierung des Bundesstaats Guerrero, in dem Iguala liegt, im
       Auftrag der Guerreros Unidos gehandelt haben.
       
       Die DEA hatte die Kommunikation überwacht, weil die Kriminellen regelmäßig
       große Mengen Heroin aus Guerrero in die USA schmuggeln. Einmal mehr
       verhärtete sich der Verdacht, dass die Guerreros Unidos die Studenten für
       eine rivalisierende Bande hielten und die jungen Männer möglicherweise
       einen Bus gekapert hatten, in dem sich Drogen befanden.
       
       Die abgefangenen Nachrichten zeigen die korrupten Strukturen auf, mit denen
       die Guerreros Unidos agieren, um im Schutz der Sicherheitskräfte Drogen zu
       transportieren. Die Polizeichefs, die die Studenten festnehmen ließen,
       standen demnach ebenso im Sold der Kriminellen wie das Militär.
       Bandenmitglieder besprechen in den SMS mit ihren in Chicago lebenden Chefs
       ihr Vorgehen. „Sollen wir ihn kalt machen?“, fragt ein Krimineller wegen
       eines abtrünnigen Informanten aus dem Rathaus.
       
       ## Es brauchte Unterstützung der US-Drogenfahnder
       
       Vor allem aber bestätigten die Nachrichten, wie stark die Armee am
       Verschwinden der 43 Studenten beteiligt war, erklärt Santiago Aguirre von
       der Menschenrechtsorganisation Centro ProDH. Den Ermittlern seien die
       Informationen schon bekannt gewesen, da die DEA sie vor einem Jahr an die
       mexikanischen Behörden weitergegeben habe. Sie führten etwa zur Verhaftung
       eines Generals, der damals das Infanterie-Bataillon von Iguala
       kommandierte.
       
       Offenbar brauchte es die Unterstützung der US-Drogenfahnder, um bei der
       Suche nach den Täter*innen voranzukommen. Denn das mexikanische Militär
       weigert sich bis heute, Dokumente herauszugeben, die mehr Klarheit schaffen
       könnten. Die Expertengruppe stellte deshalb vor zwei Monaten ihre Arbeit
       ein. „Es besteht ein bewusstes Interesse daran, die Tatsachen nicht
       aufzuklären und substanzielle Teile im Dunkeln zu halten“, erklärt
       GIEI-Mitglied Carlos Beristain. So mache eine Weiterarbeit keinen Sinn.
       
       Für Cristina Bautista war die Entscheidung ein schwerer Schlag. Ohne
       Recherchen der unabhängigen Expert*innen wären viele Fakten nie ans
       Licht gekommen. Etwa, dass Soldaten vermeintliche Beweise auf einer
       Müllhalde platzierten, um die „historische Wahrheit“ zu untermauern.
       
       ## Jahrelang belogen und betrogen
       
       Immer wieder stieß die GIEI auf die fragwürdige Rolle des Militärs. Die
       Soldaten waren in der Nacht über ein gemeinsames Funksystem ständig über
       das Vorgehen der Polizisten informiert. Zudem hatten sie einen Spitzel in
       der Uni, der auch verschleppt wurde. „Es war eine koordinierte Aktion, die
       Armee hatte unsere Söhne schon im Blick, als sie Ayotzinapa verließen“,
       erklärt Bautista. Noch Tage nach dem Verschwinden wussten die Soldaten, wo
       sich einige Studenten befanden, gaben die Info aber nicht weiter. Dabei
       hätten so Menschenleben gerettet werden können.
       
       Jahrelang fühlten sich die Angehörigen von Strafverfolgern belogen und von
       Politiker*innen betrogen. Nichts ging voran. Als dann 2018 [4][Andrés
       Manuel López Obrador die Präsidentschaft übernahm], keimte neue Hoffnung
       auf. Der Staatschef erklärte die Aufklärung der Tat zur Chefsache. Eine
       Wahrheitskommission wurde gegründet, deren Vorsitzender sprach von einem
       „Staatsverbrechen“. Ein Sonderstaatsanwalt wurde ernannt, der
       Ex-Generalstaatsanwalt verhaftet und gegen den Polizeichef Haftbefehl
       erlassen.
       
       Die Strafverfolger ließen zahlreiche Beamt*innen, Politiker*innen,
       Kriminelle und sogar Militärs verhaften. Viele von ihnen sind jedoch wieder
       auf freiem Fuß, zudem mussten früher Verhaftete freigelassen werden, weil
       sie gefoltert worden waren. Fazit: Bis heute ist kein einziger der Täter
       für das Verbrechen strafrechtlich verurteilt worden. Und die Angehörigen
       wissen immer noch nicht, was mit ihren Liebsten passiert ist.
       
       ## Nicht nur Angehörige sind zunehmend wütend
       
       Dass die Versprechungen des Präsidenten nicht eingehalten wurden, lässt
       nicht nur die Angehörigen zunehmend wütender werden. Immer wieder ziehen
       Ayotzinapa-Studenten vor militärische Einrichtungen, werfen Steine oder
       Molotowcocktails. Erst vergangene Woche lieferten sie sich in Iguala wieder
       Auseinandersetzungen mit Polizisten und sprühten auf die Kasernenwände: „Es
       war das Militär.“
       
       Auch Cristina Bautista verzweifelt an der Blockadehaltung. Immer wieder
       muss sie daran denken, wie sie nach dem 27. September 19 Monate das
       Ayotzinapa-Gelände nicht verließ und nie nach Hause ging, weil ihr Sohn
       wissen sollte, dass sie auf ihn warte.
       
       Doch die 48-Jährige gibt nicht auf. „Wir hoffen weiterhin darauf, dass
       López Obrador sein Wort hält“, sagt sie. Aber auch sie weiß, dass die Macht
       des Militärs weit über die des Präsidenten hinausgeht. Im Krieg um
       Drogenanbaugebiete und Schmuggelrouten liefern sich Mafiagruppen zudem
       schwere Gefechte, die inzwischen nicht mehr nur mit Sturmgewehren, sondern
       auch mit bewaffneten Drohnen geführt werden. Polizisten, die mit den
       Kriminellen an den Kontrollstellen der Mafia stehen, erscheinen als
       Staffage. Juristen stehen auf der Gehaltsliste von
       Verbrecherorganisationen.
       
       ## Das Schicksal nicht hinnehmen
       
       Bautista und ihre Mitstreiter*innen leben in diesen Verhältnissen.
       Manche Angehörige sind bereits gestorben, andere schwer krank. Doch sie
       wissen: Ohne ihren Einsatz würde heute niemand mehr über die 43
       verschleppten Studenten reden – so wie auch die anderen 111.000 in Mexiko
       Verschwundenen nur Beachtung finden, weil viele ihrer Mütter, Väter oder
       Geschwister ihr Schicksal nicht hinnehmen.
       
       Benjamín Ascencios Mutter ist deshalb auch zum jetzigen Jahrestag wieder
       ständig unterwegs: erst in der vier Stunden entfernten Landeshauptstadt
       Chilpancingo, dann auf der Demo in Mexiko-Stadt und danach in Iguala, um
       den in der Nacht Ermordeten zu gedenken. Sie hofft bis heute, dass ihr Sohn
       noch am Leben ist. „Die Behörden wissen doch gar nichts“, sagt sie und
       wiederholt, was viele Angehörige fordern: „Lebend habt ihr sie uns
       genommen, lebend wollen wir sie zurück.“
       
       26 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-Fund-von-Massengraebern-in-Mexiko/!5031674
   DIR [2] /Verschwundene-Studenten-in-Mexiko/!5031732
   DIR [3] https://www.nytimes.com/2023/09/02/world/americas/mexico-iguala-students-kidnapping.html
   DIR [4] /Amtsantritt-von-Lopez-in-Mexico/!5551520
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolf-Dieter Vogel
       
       ## TAGS
       
   DIR Mexiko
   DIR verschwundene Studenten
   DIR Andrés Manuel López Obrador
   DIR Drogenkrieg
   DIR wochentaz
   DIR GNS
   DIR Mexiko
   DIR Mexiko
   DIR Militär
   DIR Mexiko
   DIR Mexiko
   DIR Mexiko
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR 43 verschwundene Studenten in Mexiko: Gescheiterte Chefsache
       
       Nach 10 Jahren ist das Verschwinden von 43 Studenten in Ayotzinapa nicht
       aufgeklärt. Präsident Amlo hatte viel versprochen.
       
   DIR Verschwundene Studenten von Ayotzinapa: Der Wandel des López Obrador
       
       Erst war nur Enttäuschung über das gebrochene Versprechen von Mexikos
       Präsidenten. Jetzt diffamiert er offen Organisationen für Menschenrechte.
       
   DIR Verschwundene Studenten in Mexiko: Proteste am Jahrestag
       
       Vor acht Jahren wurden 43 Studenten eines Lehramtsseminars in Mexiko
       verschleppt. Bislang wurde niemand verurteilt.
       
   DIR Verschwundene in Mexiko: Deutschland will helfen
       
       Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt in Mexiko deutsche Hilfe bei
       der Suche nach den offiziell über 100.000 Verschwundenen zu.
       
   DIR In Mexiko verschwundene Studenten: Ex-Staatsanwalt verhaftet
       
       Im Fall der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa gibt es jetzt
       Haftbefehle. Sie ergehen gegen Militärs, Polizisten und andere
       Staatsbedienstete.
       
   DIR In Mexiko verschwundene Studenten: Keine Hoffnung auf Überlebende
       
       Mexikos Wahrheitskommission hat den Bericht über 43 verschleppte Studenten
       veröffentlicht. Er belegt schlimme Ahnungen und erhebt Vorwürfe.