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       # taz.de -- Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt: Ordentlich und sauber
       
       > Deutschland diskutiert über Verschärfungen in der Migrationspolitik. Aber
       > wie sieht es in Kommunen und Erstaufnahmen wirklich aus?
       
   IMG Bild: Ein wenig in die Jahre gekommen: Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt in Brandenburg
       
       Eisenhüttenstadt taz | Olaf Jansen ärgert das Gerede. „Wir sollten nicht an
       der Genfer Flüchtlingskonvention herumfiddeln“, sagt der Leiter der
       Zentralen Ausländerbehörde (ZABH) in Brandenburg. Jansen sitzt in seinem
       Büro in der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Eisenhüttenstadt. In
       der vergangenen Nacht sind hier 93 Menschen angekommen, viele stammen aus
       Syrien und dem kurdischen Teil der Türkei. „Wenn ich in einem türkischen
       Flüchtlingslager säße, würde ich auch jeden Tag gucken, wie ich dort
       wegkomme“, sagt Jansen.
       
       Deutschland erlebt wieder einmal Tage einer verbalen Verschärfung in der
       Migrationspolitik. CDU-Chef Friedrich Merz greift die einst von der CSU
       geforderte Zahl von maximal 200.000 Geflüchteten pro Jahr auf – als
       „Orientierungsgröße“. In Brandenburg fordert unterdessen der
       CDU-Innenminister, Michael Stübgen ein Ende des Grundrechts auf Asyl, das
       er als „überflüssig“ bezeichnet. Und [1][Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang]
       fordert Fortschritte in der Abschiebungspolitik. Es wäre nicht das erste
       Mal, dass sich dadurch das Leben am äußersten Rand der deutschen
       Gesellschaft verschlechtert.
       
       Diyar bekommt von den Debatten nichts mit, als er vergangene Woche
       unterwegs nach Deutschland ist. Der junge Mann, der seinen Nachnamen nicht
       nennen will, ist einer der 93 Menschen, die von der Bundespolizei in der
       Nacht zu Donnerstag in die Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt
       gebracht wurden. „In meinem Land, kann ich meine Gedanken nicht mehr frei
       äußern“, sagt der Kurde aus der Stadt Mardin im Südosten der Türkei.
       Präsident Recep Tayyip Erdoğan habe das Land in eine Wirtschaftskrise
       geführt und verhafte Menschen, die ihn dafür kritisierten. „Wir sind zu
       Flüchtlingen in unserem eigenen Land geworden“, sagt Diyar mit Blick auf
       die Kurden in der Türkei.
       
       In der Erstaufnahme Eisenhüttenstadt leben derzeit etwa 1.000 Menschen auf
       dem Gelände einer ehemaligen Kaserne. Die Einrichtung stand vor mehr als
       drei Jahren [2][in der Kritik], vor allem bei Frauen und queeren Menschen,
       die hier beengte Verhältnisse und übergriffiges Verhalten anprangerten.
       Behördenleiter Jansen verweist auf ein „Schutzhaus“ für besonders
       vulnerable Gruppen, über das die Einrichtung verfüge. Er sagt, etwa die
       Hälfte der schwulen und lesbischen Menschen in der Erstaufnahmeeinrichtung
       wünschten, dort untergebracht zu werden. Der Rest zöge es vor, in den
       anderen Gebäuden auf dem Gelände unterzukommen.
       
       ## 10 Tage dauerte die Flucht
       
       Diyar sagt, sein Eindruck nach wenigen Stunden in der Einrichtung sei gut,
       alles sehe ordentlich und sauber aus. Er erzählt, dass Schleuser ihn
       zusammen mit einer Handvoll anderer Geflüchteter in der Nacht in einem
       Waldstück auf deutschem Gebiet hinter der polnischen Grenze ausgesetzt
       haben, kurz danach griff die Polizei ihn auf. Etwa 10 Tage lang habe die
       Fahrt über Bulgarien und Ungarn gedauert, knapp 4.000 Euro habe er bezahlt.
       
       Nach Angaben des brandenburgischen Innenministeriums in Potsdam wurden seit
       Jahresbeginn bis Ende August etwas mehr als 9.000 Menschen in den insgesamt
       vier Erstaufnahmeeinrichtungen Brandenburgs aufgenommen. Etwa drei bis vier
       Tage nach der Ankunft werden die Geflüchteten in Eisenhüttenstadt vom
       psychosozialen Dienst der Zentralen Ausländerbehörde befragt. Dabei geht es
       nach Angaben von Behördenleiter Jansen darum, mögliche Bedarfe nach
       Medikamenten oder psychologischer Unterstützung frühzeitig abzuklären.
       „Durch die frühzeitigen Befragungen ist die Zahl der Zwischenfälle, die wir
       hier haben, so was von runter“, sagt Jansen.
       
       Eisenhüttenstadt ist Dreh- und Angelpunkt der Brandenburger
       Migrationspolitik. Hier hat nicht nur die Zentrale Ausländerbehörde, die
       dem Innenministerium des Landes unterstellt ist, ihren Sitz, auch das
       Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist auf dem Gelände vertreten. Der
       Brandenburger Flüchtlingsrat kritisiert, dass allein das Innenministerium
       in Potsdam für die Wahrung der Ansprüche Geflüchteter zuständig ist. Er
       fordert die Übertragung entsprechender Aufgaben an die fachlich kompetenten
       Ministerien für Arbeit, Bildung, Gesundheit, wie es in anderen
       Bundesländern praktiziert wird.
       
       ## Kinder lernen direkt Deutsch
       
       Für Behördenleiter Jansen ist das Brandenburger System dagegen „sehr gut“,
       weil es weniger Absprachen zwischen den Ressorts benötige. Kinder gingen
       nur wenige Tage nach ihrer Ankunft in den Unterricht, der vor Ort in drei
       Klassenstufen altersübergreifend organisiert werde, so könnten sie direkt
       beginnen, Deutsch zu lernen. Asylanträge würden in Brandenburg ein bis zwei
       Wochen nach der Ankunft gestellt, erzählt Jansen.
       
       Im Durchschnitt müssten Alleinreisende etwa drei Monate in Eisenhüttenstadt
       wohnen, bis sie an eine Kommune vermittelt würden, Familien wegen der
       angespannten Wohnsituation etwa vier Monate. „Wenn Sie die
       Erstaufnahmeeinrichtungen nicht haben, schlagen sich alle Probleme bei der
       Unterbringung und Versorgung direkt auf die Kommunen durch“, sagt Jansen.
       
       Die Gemeinde Forst liegt wie Eisenhüttenstadt direkt an der polnischen
       Grenze, knapp 60 Kilometer südlich des Ankunftszentrums. Die
       Bürgermeisterin Simone Taubenek sagt, sie habe von der gestiegenen Zahl der
       Grenzübertritte von Geflüchteten, von denen die Bundespolizei vor allem in
       dieser Region berichtet, nichts mitbekommen. Die parteilose Politikerin
       empfindet die Stimmung in der Kommune mit knapp 18.000 Einwohner*innen
       dennoch als „angespannt“. Bei den Kommunalwahlen 2019 zog hier die AfD mit
       rund 30 Prozent als stärkste Kraft in die Stadtverordnetenversammlung ein.
       
       Taubenek ist jedoch überzeugt, dass in dem Ort nur eine Minderheit etwas
       gegen Geflüchtete habe. „Wenn man hier noch hört, die nehmen uns die
       Arbeitsplätze weg, das ist ja wohl ein Scherz“, sagt die Bürgermeisterin.
       „Die Welt hat sich gedreht“, jetzt seien es die Arbeitgeber die auch hier
       in der Lausitz händeringend nach Menschen suchten. Schon seit mehreren
       Jahren sei es in der Region gelebte Praxis, das viele Firmen Angestellte
       aus Polen beschäftigen – das sei sogar in der Stadtverwaltung der Fall.
       
       Zwar stünden in Forst 30 Prozent der Wohnungen leer, die Häuser seien wegen
       des Investitionsstaus jedoch in einem schlechten Zustand, sagt die
       Bürgermeisterin. Für Geflüchtete aus der Ukraine wurden in den vergangenen
       Monaten 70 bis 80 Wohnungen hergerichtet, etwa 10.000 Euro mussten dabei
       pro Wohnung investiert werden. „Zu Lasten von anderen Plänen im
       Haushaltsjahr.“
       
       Ein größeres Problem sei aber die hohe Altersquote. „Die Kinderärztin geht
       jetzt in Rente, die Augenärztin hört auch auf“, sagt Taubenek. Die Bahn
       habe den Fahrkartenautomat abgebaut, die Post sei auch geschlossen. Sie
       sagt, die Menschen in der Stadt seien durch Corona und die Isolation, wegen
       des Kriegs und der Energiekrise verunsichert. „Die Situation, wie wir sie
       jetzt haben, hatten wir so ja noch nicht.“
       
       23 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Fluechtlingspolitik-von-SPD-bis-CDU/!5958250
   DIR [2] /Gefluechtete-Frauen-in-Erstaufnahmelagern/!5728919
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cem-Odos Güler
       
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