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       # taz.de -- Abschlusskonzert beim Musikfest: Nur mal eben kurz die Welt retten
       
       > Dass man mit dem „Weiter so“ nicht mehr weiterkommt, ist klar. Die Wende
       > muss her, auch im Konzertsaal. Beim Musikfest Berlin hat man es versucht.
       
   IMG Bild: Das Stegreif Orchester im Kammermusiksaal
       
       Nur mal kurz die Welt retten wollte man Anfang dieser Woche im
       Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, was ja erst mal ein ehrenwertes
       Vorhaben ist. Braucht man schließlich noch, die Welt.
       
       Während sich der Saal langsam füllte, war wie in einer Sprechprobe aus den
       Lautsprechern zu hören: „Was für eine Zukunft erwartet uns?“ Eine
       erwachsene Stimme gab die Frage vor, eine Kinderstimme sprach unbeholfen
       nach: „Was für eine Zukunft erwartet uns?“ Hin und her ging das so,
       mittlerweile war der Saal bis auf nur wenige frei gebliebene Plätze
       besetzt. Darunter schon mit den Älteren im Publikum, die auch sonst [1][bei
       den Konzerten des Musikfests] zu sehen waren – der Abend mit dem Orchester
       Stegreif war der Abschluss des [2][Berliner Festivals]. Aber eben dazu sehr
       viel Jüngere, Jugendliche, gestylt im kleineren Schwarzen oder casual im
       Polohemd.
       
       Also der Nachwuchs, den auch der Klassikbetrieb dringend braucht.
       „Zukunft“, plärrte es aus den Lautsprechern, oder eigentlich doch eher
       „Kufunft“, die auf den Rängen verteilten Musiker*innen des Orchesters
       Stegreif ließen erste tastende Töne in den Saal tropfen, es knarzte und
       schnalzte auf den Saiten, ein dabei geschrottetes Cello wurde wie eine
       Monstranz herumgezeigt, die Musik schwoll an zu einem Sog, aus dem sich
       schließlich ein mittelalterliches Singen herausschälte. In einer Prozession
       ging es für die Sängerinnen durch die Stuhlreihen auf die Bühne, angeführt
       wurden sie von einer Frau mit Topfpflanze.
       
       Die musste wohl für die Natur ganz allgemein herhalten, die an dem Abend
       von dem Orchester Stegreif in seiner „Symphony of Change“ auch verhandelt
       werden sollte neben den Arbeiten von vier Komponistinnen – Hildegard von
       Bingen (1098–1179), Wilhelmine von Bayreuth (1709–1758), Emilie Mayer
       (1812–1883) und Clara Schumann (1819–1896) –, die vom Ensemble noch einmal
       kompositorisch durchgeknautscht und mit reichlich anderem musikalischem
       Material drumherum garniert wurden.
       
       ## Störgeräusche zwischendurch
       
       Auch heftige Störgeräusche zählten da zwischendurch dazu, und dabei liefen
       dann alle wild durcheinander im Kammermusiksaal, nur das Publikum blieb
       natürlich sitzen; und schon formierten sich die jungen Musiker*innen
       des Orchesters zu einem neuen Bild, in einem neuen Spiel, wenn etwa
       gefällige Barockmusik mit aus den Lautsprechern kommenden ganz normalen
       Schreckensmeldungen der Gegenwart collagiert wurde.
       
       Und später kam auch das sitzen gebliebene Publikum doch noch dran beim
       Mitmachen und durfte große leere Pappkartons durch die Reihen reichen, was
       sich – klar – zu einem perkussiven Zwischenspiel auswuchs. Immer passierte
       was in dieser theatralischen Inszenierung, mit der Musik als
       Verfügungsmasse, herumgereicht als Schauwert. Die klassische Musik gab es
       mit Easy-Listening-Touch, es klezmerte, man ließ es ordentlich rocken und
       hatte den Jazz.
       
       So viel an den Armen untergehakte Geselligkeit, es schmeckte wie eine
       Konfirmandenfreizeit: jugendliche Gemeinschaft und viel guter Wille, der
       unbedingte Wille zu glauben und halt auch der Größenwahn, die ganze große
       Welt an einem selbst abzumessen.
       
       Aufgepumpt wurde die Musik schließlich mit viel Programmatik. Die großen
       Fragen unserer Zeit. So wurde der Abend damit beworben, dass bei dieser
       „Symphony of Change“ immerhin „die [3][17 globalen Ziele für nachhaltige
       Entwicklung] der Vereinten Nationen prominent in das Geschehen auf und
       neben der Bühne“ eingewoben seien. Und Ziel des Orchesters Stegreif ist es
       auch, „neue Wege aufzuzeigen, wie ein Orchester heute aussehen kann“.
       Kufunft? Ach ja.
       
       So taumelte man musikalisch vom Mittelalter weg durch die Zeiten und
       irgendwie hörte es sich doch immer gleich glattgebügelt an. Von einem
       improvisierten Stegreif konnte auch nicht die Rede sein, da war alles im
       Ablauf einstudiert. Jubelnder Applaus und stehende Ovationen dankten. Aber
       sie haben sich auch wirklich angestrengt beim Orchester Stegreif. Um die
       Welt zu retten, wird das aber möglicherweise nicht reichen.
       
       19 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sir-Simon-Rattle-beim-Musikfest-Berlin/!5953401
   DIR [2] https://www.berlinerfestspiele.de/musikfest-berlin
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Ziele_f%C3%BCr_nachhaltige_Entwicklung
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Mauch
       
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