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       # taz.de -- Jonathan Franzen über Trump und Putin: „Trump ist eine dämonische Kraft“
       
       > Dystopie und Realität: Wie steht Jonathan Franzen zu den Entwicklungen in
       > den USA und zum Ukraine-Krieg? Ein Gespräch mit dem Bestsellerautor.
       
   IMG Bild: Der US-Schriftsteller Jonathan Franzen hat mehrere Bestseller geschrieben
       
       wochentaz: Herr Franzen, 2020 soll Donald Trump versucht haben, die
       Resultate der Präsidentschaftswahl nachträglich zu kippen. Seit Anfang
       August ist er angeklagt, sein Prozess soll im März 2024 beginnen. Was
       bedeutet das für Trump und für die US-Amerikaner? 
       
       Jonathan Franzen: Der Graben zwischen den politischen Parteien wird tiefer,
       und Trumps Unterstützer werden ermutigt, radikaler zu werden. Trump ist
       eine dämonische und korrupte Kraft, wie sie von den Verfassern unserer
       Verfassung gefürchtet wurde. Auch wenn die Folgen schlimm sind, muss die
       Rechtsstaatlichkeit aber verteidigt werden. Meine größere Befürchtung ist,
       dass Trump die Wahl 2024 gewinnen und das tun wird, was Tyrannen tun: das
       Justizsystem als Waffe für ihre eigenen Zwecke einsetzen. Das war schon
       immer eine Gefahr in unserer Republik, aber wir hatten noch nie einen so
       offen kriminellen Präsidenten wie Trump.
       
       Die Midterm-Wahlen aber haben gezeigt, dass das Modell Demokratie in den
       USA noch immer funktioniert. 
       
       Ich glaube, es ist schwierig, sich überhaupt darüber bewusst zu sein, dass
       wir über die Demokratie und ihre Bedrohung durch sehr autokratische Figuren
       wie Trump sprechen. Anderseits sollten wir nicht auf das hören, was auf
       Twitter und in anderen sozialen Medien passiert, wenn wir ein Gefühl dafür
       bekommen wollen, was in diesem Land vor sich geht. Die Menschen, die auf
       Twitter sind, sind ein eher kleiner Prozentsatz der Bevölkerung, und die
       Dinge werden in den sozialen Medien sehr schnell sehr extrem. Es gibt eine
       ganze Reihe von Amerikanern, die in der Mitte der Gesellschaft stehen. Und
       ich glaube, dass sich mehr Menschen Freundlichkeit in der Regierung und in
       der Welt wünschen, als man vermuten würde, wenn man nur auf Twitter und die
       dortigen Kommentare achtet.
       
       Das heißt, Trump hat schon 2020 die Wahl verloren, weil die Menschen in den
       USA sich mehr Vernunft, oder – wie Sie sagen – mehr „Freundlichkeit“
       wünschen? 
       
       Ja, Trump hat 2020 verloren, weil die Menschen diesen Extremismus und
       diesen Wahnsinn satt hatten. Schon nach dem Aufstand vom 6. Januar sagten
       viele Leute: „Das ist gefährlich. Wir wollen das nicht“. Ich glaube nicht,
       dass es unbedingt um ein Ideal der Demokratie geht. Ich glaube, es geht
       eher darum, dass ein großer Teil des Landes aus normalen Menschen besteht,
       die keine verrückten Leute mögen. Die Marjorie Taylor Greenes dieser Welt
       sind verrückte Leute, und die meisten Leute mögen das nicht.
       
       Die Populisten dieser Welt benutzen die Frustration der Menschen, um die
       Angst anzuheizen… 
       
       Ich erinnere mich, dass ich vor etwa 15 Jahren schockiert war, als ich
       einige Tage in Florida mit einem netten Mann verbrachte. Er war ein
       Vogelkundler und leitete einen Ausflug nach Dry Tortuga, der Insel westlich
       von Key West. Wir amüsierten uns prächtig, aber eines Abends fing er an,
       über die Einwanderer zu sprechen. Ich war einfach schockiert über seine
       Abneigung gegenüber den Einwanderern und auch allgemein gegenüber
       Minderheiten in diesem Land – sie würden Privilegien erhalten, die er und
       seine Vorfahren nicht hatten.
       
       Wechseln wir die geopolitische Szene und kommen nach Russland und
       Osteuropa. Seit über einem Jahr führt Putins Armee einen rücksichtslosen
       Krieg in der Ukraine. Wie haben Sie reagiert, als die russische Armee am
       24. Februar ihre so genannte „Spezialoperation“ in der Ukraine, also im
       Zentrum Europas, begann? 
       
       Meine erste Reaktion war, dass dieser Krieg nicht lange dauern würde. Ich
       wusste natürlich, dass Putin die Krim bereits erobert hatte. Aber ich habe
       nicht damit gerechnet, dass sich daraus ein jahrelanger Krieg entwickeln
       würde, der sich immer weiter ausdehnt.
       
       Sie haben geglaubt, dass dieser Krieg in wenigen Wochen abgeschlossen sein
       würde? 
       
       Ja, ich habe nicht geglaubt, dass Putin die gesamte Ukraine einnehmen
       wollte. Das schien mir unrealistisch. Ich glaubte nicht, dass er die
       Absicht hatte, Kiew zu erobern. Dieser Krieg ist aus offensichtlichen
       Gründen die Hölle. Aber er schien auch weit weg zu sein. Ich habe im
       Allgemeinen einen sehr guten Sinn für Geografie, aber ich wusste nicht
       genau, wo die U-kraine lag. Die Ukraine ist kein östliches Land. Es liegt
       mitten in Europa!
       
       Eines der groteskesten Meisterwerke von Stanley Kubrick, „Dr. Strangelove“,
       könnte bittere Realität werden. Eine nukleare Apokalypse ist eine
       Horror-Option, die von Putins Ministern und Generälen angedroht wurde.
       Fürchten Sie heute einen nuklearen Winter? 
       
       Ich habe meine Angst vor einem Atomkrieg nie überwunden, und ich glaube,
       dass diese Angst berechtigt ist. Eric Schlosser, der auch „Fast Food
       Nation“ geschrieben hat, hat ein fantastisches Buch mit dem Titel „Command
       and Control“ über die Sicherheit von Atomwaffen geschrieben. Und, okay, das
       ist jetzt ein bisschen off topic, aber ich war neulich auf einer Party. Als
       ich hereinkam, ging ich zum Getränketisch, und da stand ein Mann. Er war
       ein Nachbar des Gastgebers. Ich sagte etwas über Covid, er sagte etwas über
       Verschwörungen. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass er 20 Minuten später
       immer noch über diese Verschwörungstheorien sprach. Zuerst war es Covid.
       Dann das Kennedy-Attentat. Dann der 11. September. Und die Regierung war
       natürlich eingeweiht. Es war ein Schwindel! Ich habe immer wieder versucht,
       ihm zu sagen, dass das interessante Geschichten sind, die wir uns selbst
       erzählen könnten. Es gibt da nur ein Problem.
       
       Welches Problem? 
       
       Die Menschen sind nicht so schlau. Sie haben sich eingebildet, dass Covid
       von der amerikanischen Regierung ausgelöst wurde, nur um die Zahl der
       Sozialhilfeempfänger durch die Tötung alter Menschen zu verringern! Ich
       will damit sagen, ob Sie wirklich glauben können, dass die Menschen
       intelligent genug sind, um so etwas zu durchschauen, die ganze
       „Verschwörung“ so perfekt zu koordinieren, und dann, was am schwierigsten
       ist, es für immer geheim zu halten? Das ist auch der Grund, warum ich mir
       Sorgen über Atomwaffen mache: Die Menschen sind nicht so schlau, sie machen
       Fehler.
       
       Wir könnten eine ganze Literatur der technischen Katastrophen schreiben.
       Als 1986 Tschernobyl explodierte, schrieb [1][Christa Wolf] „Störfall“.
       [2][Vladimir Sorokin hat 2014 „Der Schneesturm“ geschrieben], eine Dystopie
       über den nuklearen Winter. „The Road“ von Cormac McCarthy ist auch eine
       Story nach einem nuklearen Winter. Warum finden wir keine Dystopien in
       Ihren Romanen? 
       
       Ich glaube, wenn man einen Roman schreibt, muss man eine Entscheidung
       treffen. Entweder man dient einer Idee oder man dient den Figuren. Die
       ganze Maschinerie eines dystopischen Systems – ich habe das Gefühl, dass
       das so hegemonial in der Welt des Romans wirkt, dass nicht genug Platz für
       meine Vorliebe für menschliche Komplexität bleibt. Ich denke, dass ich ein
       realistischer Schriftsteller bin und dass mein Verständnis der menschlichen
       Psychologie auf der Beobachtung von Menschen in realistischen Situationen
       beruht. Sobald man ein nicht-realistisches Element einführt, würde ich
       nicht mehr darauf vertrauen, dass ich mir vorstellen könnte, wie die
       Menschen reagieren würden. Wenn ich das Dystopische zur Prämisse eines Buch
       machen würde, würde ich das opfern, was ich als Romanautor am besten kann.
       
       Heute scheint die Linke, in Europa wie in den USA, zwischen dem alten
       Prinzip des Pazifismus und der Position eines „gerechten Widerstands“ hin-
       und hergerissen. Ist es richtig, die Ukraine gegen die barbarische Invasion
       von Putins Armee zu bewaffnen und zu verteidigen? 
       
       Ich komme aus einer sehr pazifistischen Familie, daher fällt es mir nicht
       leicht, gewaltsamen Widerstand zu befürworten. Was die Sache für mich noch
       komplizierter macht, ist, dass ich nicht glaube, dass in der Ukraine
       irgendwelche Engel leben. Wenn der Krieg endlich zu Ende ist, wird wenig
       von all den Problemen mit der Korruption gelöst sein. Dennoch gibt es eine
       neue Achse in der Welt: die autoritäre Achse. Diese autoritäre Achse ist
       sehr stark in Russland. Auch die Türkei, [3][Ungarn] und Polen neigen sich
       in diese Richtung. Und dann gibt es natürlich noch China und Modi in
       Indien. Ich denke also, jemand von der Linken würde sich nicht wünschen,
       dass die Aggressionen dieser Autokratien unbeantwortet bleiben. Denn sie
       sind nicht nur antiliberal, sondern auch sehr linkenfeindlich.
       
       24 Sep 2023
       
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