URI: 
       # taz.de -- Edgar Liegl und das bayerische Kabarett: Der Philosoph des Brettls
       
       > Ab 1977 gab Edgar Liegl im Scharfrichterhaus bayerischen Kabarettisten
       > eine Bühne. Auch unser Autor trat dort auf und hat ihn jetzt wieder
       > getroffen.
       
   IMG Bild: Edgar Liegl – Schöngeist des Kabaretts
       
       Als Edgar Liegl geboren wurde, ist Hitler in Polen einmarschiert. Bis ins
       Alter von 77 Jahren hat der Politologe an der Fachoberschule in
       München-Pasing unterrichtet. Seine Studenten schenkten ihm bei der
       Verabschiedungsfeier ein T-Shirt mit dem Nietzsche-Zitat: „Man muss noch
       Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“
       
       Ich traf auf Liegl in einer Zeit des politischen Widerstands der 80er Jahre
       in der Münchner Damenstiftstraße, in der ich aufgewachsen bin, gleich neben
       dem Bestattungsamt. Liegl lebte zu dieser Zeit drei Häuser weiter im Haus
       mit der Nummer 12 in einer WG. Jedes Wochenende fuhr er mit seinem Volvo
       nach Passau zu den von ihm kuratierten Kulturveranstaltungen hin und wieder
       zurück, um seinem Lehrberuf als Dozent in München an der Hochschule
       nachzugehen.
       
       Gerade hatte ich die Gruppe „Guglhupfa“ gegründet, für die ich die Texte
       schrieb. Heute wird sie bisweilen als das politische härtere Pendant zu der
       damals schon recht aufstrebenden Bayernfolk-Gruppe „Biermöslblosn“
       bezeichnet. Es war damals die Zeit des [1][Widerstands gegen die WAA], die
       in Wackersdorf geplante Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte
       Brennstäbe aus Atomkraftwerken.
       
       Große Festivals gegen diesen atomaren Wahnsinn wurden veranstaltet und die
       damalige bayerische Staatsregierung hatte die Gegend um Schwandorf in ein
       Kampfgebiet verwandelt, dass es den demonstrierenden Oberpfälzern, die sich
       um ihre Heimat sorgten, angst und bang wurde, wenn über ihren Köpfen die
       Polizeihubschrauber standen.
       
       „Ich möchte schon sagen, dass damals das Kabarett politischer, direkter war
       und sich gegen die jeweilig Herrschenden richtete“, erinnert sich Liegl,
       mit dem mich eine lange Freundschaft verbindet und den ich jüngst noch
       einmal aufgesucht habe. „Irgendwie war dies auch ein eher bürgerlich von
       links angehauchtes Geschäftsmodell, was auf den aus dem Boden sprießenden
       Kleinkunstbühnen auf dem Lande funktionierte.“
       
       Die Veranstalter stammten allesamt aus der Nach-68er-Bewegung, aus der sich
       die Grünen etabliert und zum Establishment von heute formiert haben. „Die
       sahen ihr politisches Ideal, für das sie so gerne missionierten, im
       Kabarett gespiegelt.“ Edgar Liegl sagt dies ohne Wehmut aber in einer
       aufklärerischen Pose, und gerne hätte man ihn in der französischen
       Revolution als Rädelsführer gesehen.
       
       ## Vom Finanzbeamten zur Bohemefigur
       
       Da stand er also in der Damenstiftstraße, damals in den 80ern. Edgar Liegl,
       der intellektuelle Kopf des Schafrichterhauses, eine Mischung aus einem
       Dandy und einer Bohemefigur – wie aus der Zeit gefallen. Tags zuvor hatte
       ich ihn im Münchner Theater im Fraunhofer gesehen beim Auftritt von Sigi
       Zimmerschied, dem die Passauer Bürgerschaft wegen seiner Bühnenprogramme
       Briefe geschickt hat mit der Aufschrift: „A ganz a miesa, dafeida, dreckada
       Dreck san Sie“.
       
       Liegl war aus einer Karriere als Finanzbeamter ausgestiegen, eroberte sich
       auf dem zweiten Bildungsweg die Berechtigung zur Dozentenschaft, unter
       anderem für Kultur- und Medientheorie an der FH München. Zusammen mit
       seiner damaligen Frau kaufte er dann das heruntergekommene alte
       Scharfrichterhaus in der Milchgasse 2 zu Passau, das niemand haben wollte,
       so baufällig wie es war. Er renovierte es, ein Schmuckkästchen entstand.
       Aus einem mittelalterlichen Gewölbe wurde ein Restaurant, eine
       Kleinkunstbühne, eine Galerie und ein Kino.
       
       „Ja, ich hab dich schon gsehn, damals“, hat Nachbar Liegl später gesagt.
       „Ich hab dich schon kennt, als Du mich gfragt hast, ob ihr mal in Passau
       auftreten dürft.“ Bald darauf war es so weit und es war eine
       Herausforderung, vor dem Passauer Publikum zu bestehen. Jeder
       Nachwuchskabarettist hatte eine gewisse Furcht davor, dort auf die Bühne zu
       steigen, und wurde einer gewissen Überheblichkeit des Passauer Publikums
       gewahr, das einen musterte wie bei Gericht, kurz vor dem vernichtendem
       Urteil des Scharfrichters, – zum Glück war die Todesstrafe und der Kerker
       abgeschafft.
       
       So verwöhnt waren sie da, die Passauer, die noch den Habitus, einen
       gewissen Stolz in sich tragen, der noch aus der Zeit stammt, als Passau
       durch den Salzhandel an der Donau eine reiche Stadt war. Liegl erklärt das
       so: „Passau ist davon ja geprägt, dass der Bischof von Passau der Bischof
       von Wien und Budapest war. Eines der mächtigsten Bistümer. Darum ist da ja
       fast so ein Weihrauchnebel, der irgendwie über der Stadt liegt.“
       
       ## Ist das Kabarett heute tot?
       
       Wie sagt er zum [2][Zustand des politischen Kabaretts in Bayern] – nach
       Corona und während der Krieg in der Ukraine wütet? Ist es tot?: „Ja mei,
       war das denn schon jemals nicht tot. Das sagt man doch schon, seit es das
       Kabarett gibt. Es wird immer wen geben, der sich mit den gesellschaftlichen
       Zuständen nicht einverstanden erklärt und der sucht sich dann ein Brettl.“
       Ob es früher nicht doch besser war? Natürlich wünschte man sich heute einen
       Kabarettisten vom Schlage des 2013 verstorbenen Dieter Hildebrandts, sagt
       Liegl, einen, der „die Zeitenwende zurechtrückt und auch mit seinem Gewerbe
       hart ins Gericht geht“.
       
       Immer mehr Kabarettisten à la Nuhr, [3][Eckhart] und Gruber rücken in die
       Nähe des populären Volkswillens und machen sich zu Propagandisten rechtem
       Gedankenguts. „Dann müssen halt die Jüngeren ran. Es wird immer wieder
       Künstler geben, die den Widerstand proben.“ Mit Humor. Der werde immer
       wichtiger. „Es wird ja heute mehr vom Humor gesprochen und sogar Seminare
       darüber abgehalten.“
       
       Und die heute in Bayern vor allem durch das Fernsehen populären
       Kabarettisten wie Helmut Schleich oder [4][Monika Gruber,] sind das dann
       Humorpopulisten? „Das Kabarett wird vom Fernsehen umarmt, bis ihm die Luft
       ausgeht“, sagt Liegl. „Es verkommt zu einem Amüsierfeld, dem der Stachel
       der Veränderung fehlt.“ Sein Urteil: „Das Fernsehen ist der Tod des
       Kabaretts.“
       
       Erst vor Kurzem trat eine junge Formation mit ihrem Liederprogramm in einer
       Berliner Kellerbar auf, sie nannten sich „Bavarian Immigrants“. Mit ihren
       Liedern trafen sie den politischen Ton der Zeit sehr elegant, mit fast
       circensischen und performartigen Einschüben. Wäre Edgar Liegl im Publikum
       gewesen, hätte er die Gruppe vielleicht in das Scharfrichterhaus
       eingeladen, wo so viele Karrieren ihren Anfang nahmen.
       
       ## Hape Kerkeling gewann das erste „Scharfrichterbeil“
       
       So auch die vom jungen Hape Kerkeling. Der war der erste Preisträger des
       Kabarett-Wettbewerbs um das „Scharfrichterbeil“, das jedes Jahr vergeben
       wird. Den hat Liegl zusammen mit Walter Landshuter ins Leben gerufen.
       Kerkeling, der macht ja eigentlich kein Kabarett – oder? Und was ist
       Kabarett überhaupt? „Gutes Kabarett muss rotzig sein und hat mit Moral
       nichts zu tun, sondern mit politischem Engagement. So wie es in einem Klima
       der reaktionären CSU-Politik gediehen ist – mit einem Publikum, das mit der
       Politik unzufrieden war.“
       
       In Passau herrscht mittlerweile ein etwas anderes Klima. „Das
       Scharfrichterhaus und die Universität haben in Passau zu einer gewissen
       Veränderung beigetragen. Ob das aber in der SPD-geführten Stadt eine
       dauerhafte Veränderung bewirkt, ist fraglich“, sagt Liegl. Sein
       Scharfrichterhaus hat er inzwischen an den Holzhändler Matthias Ziegler
       verkauft, der eher eine gehobene Gastronomie mit feiner Weinbegleitung im
       Sinn hat.
       
       Aber er will nicht von oben hinunterschauen auf Passau. „Ich tue mich da
       leicht als einer, der die Provinz seit Jahren von der Großstadt aus
       betrachtet. Für mich geht es immer noch um die Radikalität der Kunst, im
       Sinne Arthur Rimbauds nämlich. Um die Entfesselung aller Sinne, nicht nur
       die des Feiertagssinns aus einer gewissen finanziellen Abgesichertheit
       heraus. Ein Künstler ist einer, der sich auf der Nase Warzen pflanzt und
       sie groß züchtet.“
       
       Zu seinem nächsten runden Geburtstag hofft der nun 84-jährige Liegl, dass
       alle Kreativen in Passau nochmals zusammenkommen mögen. Und ich hoffe, dass
       dies spätestens zu seinem 100. Geburtstag wirklich stattfindet.
       
       Andreas Lechner studierte Musik am Richard-Strauß-Konservatorium und war in
       den 80er Jahren Kopf der Volksmusikkabarett-Gruppe „Guglhupfa“. Heute lebt
       er als Autor, Schauspieler und Galerist in Berlin.
       
       4 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /30-Jahre-nach-den-Wackersdorf-Protesten/!5265313
   DIR [2] /Passauer-Scharfrichterhaus/!5428505
   DIR [3] /Lisa-Eckhart-ueber-Cancel-Culture/!5725928
   DIR [4] /Strategie-rechter-Populisten/!5952055
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Lechner
       
       ## TAGS
       
   DIR Landtagswahl Bayern
   DIR Kabarett
   DIR Passau
   DIR CSU
   DIR Karl Valentin
   DIR Satire
   DIR Kabarett
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR 75. Todestag von Komiker Karl Valentin: Absurdl aus der Au
       
       Zwischen Anarchie und Avantgarde: Vor 75 Jahren starb Karl Valentin. Eine
       nur wenig über den Verdacht der Hommage erhabene Erinnerung.
       
   DIR Kabarettist Gerhard Polt wird 80: Der Grand-Sinnierer
       
       Gerhard Polt, seines Zeichens Kabarettist, Satiriker, Beobachter und
       verhinderter Bootsverleiher, wird 80. Anlass genug für einen Gedanken.
       
   DIR Comedian über Corona und Humor: „Wir senden alle aus dem Bunker“
       
       Till Reiners ist Nachwuchs-Comedian und steht seinem Vorbild Josef Hader an
       Bösartigkeit in nichts nach. Ein Gespräch über Humor in Quarantäne.