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       # taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Tim Kemmerling: Ein letztes Mal durch die Fiese Remise streunern
       
       Vor einigen Wochen war ich nichtsahnend auf Instagram unterwegs. Eigentlich
       will ich mich da, auch wenn das niemand gerne zugibt, einfach ein bisschen
       berieseln lassen. Als ich dann allerdings einen Beitrag von der Fiesen
       Remise gesehen habe, in dem diese ihre Schließung ankündigte, war es mit
       dem seichten Social-Media-Entertainment schnell vorbei.
       
       Die Fiese Remise ist ein Techno-Club in der Köpenicker Straße in Kreuzberg,
       nicht weit vom Schlesischen Tor und muss, wie angekündigt, im November
       raus. Der Vermieter will den Mietvertrag nicht verlängern. [1][Anstehende
       Clubschließungen sind, angesichts der A100], für Berlin leider nichts
       Neues, damit habe ich mich schon abgefunden. So zynisch das auch klingt.
       Diese Autobahn wird gebaut und ich kann daran nichts mehr ändern, egal wie
       schlimm ich das auch finden mag. Doch dass dann auch noch mein
       Lieblingsclub wegen einem völlig anderen Grund aus der süßen Location
       ausziehen muss, kommt unerwartet.
       
       „Dann müssen wir da wohl nochmal hin,“ ist der erste kollektive Gedanke von
       meinen Mitbewohnern und mir bei der kleinen Krisensitzung auf unserem
       Balkon. Das haben wir am Freitag dann auch gemacht. Die Party des
       Aurora-Kollektivs war wahrscheinlich die letzte Party in der Remise, die
       ich miterleben werde. Natürlich könnte ich bis zum November jetzt jedes
       Wochenende hingehen. Da die Melancholie aber mit jedem Besuch nicht
       geringer werden würde, gehe ich mal davon aus, dass es am Freitag das
       letzte Mal war. Außerdem gehe ich nicht jedes Wochenende feiern und jetzt
       so zu tun, als wäre das doch so, wäre auch falsch. Man fängt ja im letzten
       Monat im Job, den man schon gekündigt hat, nicht aus lauter Melancholie an,
       plötzlich Überstunden zu machen oder man geht auch nicht mit seinem Partner
       oder seiner Partnerin auf doppelt so viele Dates, weil man weiß, dass die
       Beziehung langsam in die Brüche geht.
       
       Am Freitagabend haben wir also alles gemacht, was wir sonst so machen,
       bevor wir dort hingehen, es wurden etliche Outfits anprobiert und wieder
       ausgezogen, Sekt und Bier getrunken und Getränkebestellungen an Leute
       abgegeben, die noch zum Vortrinken vorbeikommen würden. Gegen halb zwölf
       waren wir am Ostbahnhof. Von da ist es noch ungefähr ein Wegbier bis zur
       Fiesen Remise.
       
       Dort angekommen stehen wir – wie immer – nicht länger als 10 Minuten an.
       Drinnen ist es nicht voll, aber auch nicht zu leer, familiäre Partystimmung
       macht sich schnell breit. Weil es nicht so voll ist wie in vielen anderen
       [2][angesagten Technoclubs in Berlin] ist nur der obere Dancefloor auf, der
       aber dafür richtig. Die Musik ist durchgängig gut und man sieht den DJs und
       DJanes an, dass sie diesen Abend sehr genießen, vielleicht sind sie ja so
       melancholisch unterwegs wie ich in dieser Nacht. Wenn einem die Musik so
       gut gefällt wie mir, und der Stimmung im Club nach zu urteilen auch allen
       anderen Leuten, vergeht die Zeit immer besonders schnell. Dann ist es auf
       einmal schon heller Morgen.
       
       Jede dunkle Nacht hat ein helles Ende, denke ich mir, als ich mit meinem
       Mitbewohner Lenny aus der Remise falle und in der prallen Sonne über die
       Schillingbrücke zum Ostbahnhof zurücklaufe. Nach so einer Nacht in eine
       volle S-Bahn zu steigen und sich die Öffis mit dem morgendlichen
       Berufsverkehr zu teilen, gehört dazu. Genau wie das Nachtleben eben zu
       Berlin gehört.
       
       Wenn die Remise und viele weitere Clubs bald schließen müssen, bleibt nur
       die Hoffnung, dass die Clubs neue Locations finden oder sich neue Leute
       trauen überhaupt noch solche Orte zu gründen. Denn ohne das Nachtleben in
       Berlin schwingt der Asphalt nicht wie er sollte und wie es vor Autobahn und
       Spielverderber-Vermietern der Fall war.
       
       Meine Abneigung dem Vermieter gegenüber ist aber nicht ganz fair. Ich weiß
       nicht, was er, nachdem die Remise raus ist, mit dem Standort vorhat, und
       die Barkeeperin kann es mir auch nicht sagen. Trotzdem werde ich beim
       Tanzen und Durch-den-Club-Streunern das Gefühl nicht los, dass das hier das
       letzte Mal ist, bevor das in Bagger, Walzen und Kräne geformte Kapital über
       die Fläche rollt, wo jetzt noch für ein paar Wochen ein Teil des
       kulturellen Herzens Berlins schlägt.
       
       26 Sep 2023
       
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