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       # taz.de -- Antisemitische Propaganda: Justiz macht sich zum Deppen
       
       > Rechtsextreme Äußerungen müssen schärfer verfolgt werden, fordert der
       > Celler Generalstaatsanwalt Lüttig. Viele Justizorgane legten das Recht
       > naiv aus.
       
   IMG Bild: Sehen viele Gerichte nicht als justiziabel an: „Judenstern“ mit der Aufschrift „ungeimpft“
       
       Mit einem „Judenstern“ herumzulaufen, auf dem „ungeimpft“ steht, „Israel
       ist unser Unglück“ auf ein Wahlplakat zu schreiben oder über die
       „Judenpresse“ zu schimpfen – all das fanden niedersächsische Richter und
       Staatsanwälte nicht strafrechtlich verfolgbar. Der Celler
       Generalstaatsanwalt Frank Lüttig hat jetzt gefordert, solche Äußerungen
       müssten konsequenter geahndet werden. „Da muss die Justiz klare rote Linien
       einziehen und sich nicht in akademischem Geplänkel verlieren“, sagte Lüttig
       der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ).
       
       Dass sich die Justiz so schwer tut mit der Verfolgung offensichtlich
       rechtsradikaler Äußerungen, führte Lüttig auch auf das
       Bundesverfassungsgericht zurück, das die Meinungsfreiheit immer wieder
       hochgehalten habe. Um Volksverhetzung feststellen zu können, müsse nach dem
       Gesetz ein unvoreingenommener, verständiger Beobachter bei mehrdeutigen
       Aussagen zu dem Schluss kommen, dass eine straflose Deutung nicht möglich
       ist. „Mein Eindruck ist, dieser verständige Beobachter ist mittlerweile zu
       einem Depp mutiert, der nichts mehr versteht, schon gar nicht die
       Geschichte“, sagte Lüttig der HAZ.
       
       Wegen der steigenden Zahl an Ermittlungsverfahren wegen antisemitischer
       Bestrebungen hat das niedersächsische Justizministerium im vergangenen Jahr
       einen Leitfaden für Polizei und Justiz vorgestellt. Er enthält eine
       Checkliste, die helfen soll, antisemitische Straftaten als solche zu
       erkennen. Als Anhaltspunkte werden genannt, ob sich ein Vorfall in der Nähe
       einer Synagoge abspielte oder etwa am Holocaust-Gedenktag. Die Zahl der
       Ermittlungsverfahren mit antisemitischem Hintergrund schwankte: 2019 waren
       es 225, im vergangenen Jahr 322.
       
       ## Staatsanwaltschaft hat Nachholbedarf
       
       Dass ein gewisser Nachholbedarf besteht, zeigt [1][ein Fall wie der von
       Johannes Welge]. Der ehemalige Kreisvorsitzende der rechtsextremen
       Minipartei Die Rechte hatte 2020 vor der Braunschweiger Synagoge eine
       Kundgebung angemeldet mit dem Motto: „Freiheit für Palästina –
       Menschlichkeit ist nicht verhandelbar! Zionismus stoppen!“ Stattfinden
       sollte die Mahnwache zwischen 19.33 und 19.45 Uhr – den Eckdaten der
       Nazi-Diktatur. Die Braunschweiger Staatsanwaltschaft konnte darin zunächst
       keine Straftat erkennen. Es brauchte eine Beschwerde und einen Brief an die
       damalige Justizministerin Barbara Havliza (CDU) um eine Wiederaufnahme der
       Ermittlungen zu erreichen. Im März wurde Welge zu einer Geldstrafe von
       2.400 Euro verurteilt.
       
       2021 hat das Landgericht Hannover die Ermittlungen wegen eines Plakats der
       Rechten beendet. „Israel ist unser Unglück! Schluss damit“ lautete der Text
       für den Europa-Wahlkampf 2019. Es sei „jedem auch noch so schlichten Gemüt
       klar, dass 'Israel ist unser Unglück’ nichts anderes bedeutet als 'die
       Juden sind unser Unglück’“, sagte Lüttig. Ohne gerichtliche
       Durchsuchungsbeschlüsse hätten seine Kollegen nicht weiter ermitteln
       können. Das sei kein Ruhmesblatt für die Justiz.
       
       Nicht nachvollziehen kann der Generalstaatsanwalt auch, dass
       [2][verschiedene Gerichte Menschen freigesprochen haben, die „Judensterne“
       im Stile der NS-Zeit mit der Aufschrift „ungeimpft“ trugen]. Er halte das
       für grundlegend falsch und geschichtsvergessen. „Der 'Judenstern’ war
       unzweifelhaft Teil des Holocaust“, sagte Lütte. Die Selektion der Juden von
       ihrer Vernichtung zu trennen sei völlig lebensfremd.
       
       Immerhin angeklagt – wenn auch im dritten Anlauf – ist Martin Kiese von der
       Rechten. [3][Bei einer Parteiveranstaltung zum Volkstrauertag 2020 hatte er
       Journalisten zugerufen: „Judenpresse!“], „Verdammte, Feuer und Benzin für
       Euch!“, „Judenpack“. Der Journalist Moriz Siman hat das auf einem kurzen
       Video dokumentiert. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig sah hier keinen
       Grund, weiter zu ermitteln. „Die Worte 'Jude’ und 'Judenpresse’ sind
       insoweit schon objektiv keine Beleidigungen – ebenso wenig wie 'Christ’
       oder 'Moslem’“, teilte sie mit.
       
       Um den Tatbestand neu bewerten zu können, machte sich die
       Staatsanwaltschaft daran, Quellen aus der Zeit des Nationalsozialismus
       auszuwerten. Die Strafverfolger stießen auf [4][einen Artikel aus der
       NSDAP-Zeitung Der Freiheitskampf]. Darin stand am 7. März 1931 ein
       Leitartikel mit dem Titel „Nieder mit der Judenpresse“. Illustriert war er
       mit einer Faust, die in das Gesicht eines als jüdisch karikierten
       Journalisten schlägt.
       
       Der Text legt aus Sicht der Staatsanwaltschaft nahe, dass damals die
       gesamte nicht-rechte Presse gemeint gewesen sei. Dementsprechend gehe es
       Kiese heute darum, gegen die gesamte nicht-rechtsextreme Presse
       aufzustacheln und die Gesamtheit der in Deutschland lebenden Juden zu
       verunglimpfen.
       
       25 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aufruf-zu-Kundgebung-vor-Synagoge/!5921682
   DIR [2] /Gelbe-Sterne-bei-Corona-Protesten/!5834202
   DIR [3] /Anklage-im-dritten-Anlauf/!5932936
   DIR [4] https://hait.tu-dresden.de/ext/forschung/der-freiheitskampf.asp
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gernot Knödler
       
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