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       # taz.de -- Ladendiebstahl in Großbritannien: Große Aufregung um 5-Finger-Rabatt
       
       > In Großbritannien wird geklaut. Einzelhandelsunternehmen schieben es auf
       > Kleptomanen und Drogenabhängige. Sie übersehen dabei die wahren Ursachen.
       
   IMG Bild: Ist jetzt auch unter der Hand in britischen Pubs zu haben: Schokolade
       
       Was ich an [1][London], wo ich gerade eine Zeit als Stipendiat eines
       Austauschprogramms verbringen darf, besonders mag, sind die Pubs. Als
       Wahlberliner schätze ich den Reiz verranzter Eckkneipen. Aber in die Pubs
       mit ihren holzverkleideten Wänden, urigen Theken und der heimeligen
       Wohnzimmeratmosphäre habe ich mich verliebt. In diesen Pubs könne man jetzt
       neben Bier auch Fleisch, [2][Kaffee], Käse oder Schokolade kaufen,
       berichten englische Zeitungen, weil Ladendiebe dort ihre Beute
       weiterverkauften.
       
       Als Pandemie hat Dame Sharon White, Chefin des Unternehmens John Lewis
       Partnership, das Kaufhäuser und Supermärkte betreibt, [3][gegenwärtige
       Ladendiebstähle] im Vereinigten Königreich genannt, über die gerade alle
       reden. Laut dem British Retail Consortium (BRC) soll sich deren Zahl in den
       vergangenen drei Jahren mehr als verdoppelt und bei 8 Millionen Fällen im
       Jahr 2022 einen Schaden von 953 Millionen Pfund angerichtet haben.
       Einzelhändler beklagen, dass die Polizei ihren Anzeigen nicht mehr nachgehe
       und sie den Dieben machtlos ausgeliefert seien.
       
       Eine Gruppe von Einzelhandelsunternehmen hat deshalb beschlossen, eine
       Polizeioperation zu finanzieren: mit dem „Project Pegasus“, für das sie
       600.000 Pfund zur Verfügung stellen, sollen Sicherheitskameras und andere
       Daten ausgewertet werden, um ein besseres Verständnis des Phänomens zu
       erlangen. Andere Zahlen relativieren die mediale Aufregung durch die
       Einzelhändler und zeigen, dass die Zahl der Ladendiebstähle lediglich
       wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreicht hat.
       
       ## Die Polizei ist überlastet
       
       Aber Zahlen und Fakten sind das eine. Das emotionalisierende Bild von
       Plünderungen durch Steak und Schokoladen raubende Banden das andere.
       Forderungen nach härteren Strafen überraschen deshalb nicht, angesichts
       einer scheinbar überforderten Polizei wirken sie aber ohnmächtig. Weil sich
       das Problem nicht einfach mit mehr Repression lösen lässt, macht das die
       Frage nach den Ursachen unumgänglich. Gelegenheit mache halt Diebe, heißt
       es da dann, zum Beispiel mit Verweis auf Selbstbedienungskassen oder zu
       wenig Sicherheitsvorkehrungen.
       
       Dabei muss man echt kein Sherlock sein, um einen Zusammenhang zu erkennen,
       diesen einen riesigen, fetten, breiten Elefanten in der Supermarkthalle:
       Die Inflation lag im Vereinigten Königreich im August bei 6,7 Prozent, in
       der Eurozone dagegen bei 5,2 Prozent, womit die Briten G7-Inflationsmeister
       sind. Viel krasser ist der Unterschied bei Lebensmittelpreisen: In
       Deutschland lag die Teuerung im Juli bei beachtlichen 10,91 Prozent, im
       Vereinigten Königreich waren es sogar 14,9 Prozent.
       
       Bei der sogenannten Ladendiebstahl-Pandemie seien organisierte Banden oder
       Wiederholungstäter mit Suchtkrankheiten zugange, heißt es in britischen
       Medienberichten immer wieder. Diese Beobachtung kann auf subtile Weise den
       Eindruck schaffen, dass es sich bei dem Phänomen also gar nicht um das
       Ergebnis steigender Lebenshaltungskosten und einer sozialen Krise handele.
       Es würden ja schließlich nicht Menschen klauen, die hungern und dursten,
       sondern Kriminelle und Drogensüchtige.
       
       Ich frage mich dann aber: Welcher Mensch besorgt sich seine Lebensmittel
       nicht lieber entspannt im Supermarkt, sondern freiwillig unter der Hand in
       Pubs oder auf der Straße, so als würde er nicht Kaffee oder Käse, sondern
       Kokain kaufen?
       
       27 Sep 2023
       
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