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       # taz.de -- Sanktionen gegen Aserbaidschan: Glotzt nicht so erleichtert!
       
       > Alle Argumente, sich aus dem Konflikt um Bergkarabach herauszuhalten,
       > erweisen sich als bequem und ahistorisch. Deutschland muss endlich
       > handeln.
       
   IMG Bild: Ein Mitglied der EU-Beobachtermission blickt auf den Latschin-Korridor im Juli 2023
       
       Halten wir es schlicht. Das ist ein Text für all jene, die sich nicht dafür
       interessieren möchten, [1][was gerade in Bergkarabach und Armenien
       geschieht]; ein Text für die Menschen, die vielleicht sogar froh sind, dass
       sich dort gerade ein Problem erledigt, wenigstens [2][einer dieser
       Konflikte] endet, die „uns“ hier in letzter Zeit beschäftigen. Es ist auch
       ein Text für die Menschen, die finden, dass Armenier:innen verdient
       hätten, was gerade geschieht, weil Bergkarabach laut Völkerrecht zu
       Aserbaidschan gehört, weil Armenien mit Russland verbündet ist und seine
       Einwohner allesamt putinfreundlich seien. Und zu guter Letzt für jene, die
       finden, es sei das gleiche, wenn die Ukraine die Krim zurückerobern wolle
       und Aserbaidschan Bergkarabach und man müsse als „proukrainische“ oder
       zumindest „antirussländische“ Person deshalb automatisch Aserbaidschan
       unterstützen.
       
       Es hat sich – wahrscheinlich auch in einem Wunsch, die Kompliziertheiten
       der Welt für sich zu ordnen – in Deutschland eine Erzählung durchgesetzt
       laut der ein Verweis aufs Völkerrecht alles klären soll: Kosovo, Krim,
       Karabach – alles ein und dasselbe, aber das ist apolitisch und ignorant.
       Also ja, völkerrechtlich gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan. Es spielt
       jedoch eine Rolle, wer diesen Anspruch auf welche Art und Weise durchsetzen
       will. Aserbaidschan ist eine mit Erdöl und Erdgas reich gewordene Diktatur.
       Es gibt ein Parlament, aber die Dynastie des Präsidenten Ilham Alijew
       regiert das Land. Diese Machthaber und ihre Gefolgsleute hetzten in den
       vergangenen Monaten und Jahren systematisch rassistisch gegen
       Armenier:innen, nannten sie „Ungeziefer“, redeten von Auslöschung und
       Reinigung des Landes.
       
       Und beim Sprechen blieb und bleibt es nicht. [3][Während des
       Karabach-Kriegs von 2020], den Aserbaidschan gewann, und später
       vergewaltigten und folterten aserbaidschanische Soldaten, [4][es gibt viele
       Videos davon,] zum Teil drehten die Soldaten sie gleich selbst. Solche
       Videos tauchen gerade wieder auf. Wenn man also schon Ukraine-Vergleiche
       ziehen will, sollte man die Ähnlichkeiten im genozidalen Reden und Handeln
       zwischen den beiden Fossilautokratien Russland und Aserbaidschan wenigstens
       bemerken. Es gibt Gründe dafür, warum Zehntausende aus Karabach fliehen,
       einem Gebiet, dass seit etwa 2.000 Jahren armenisch besiedelt ist. Oder war
       – wenn es so weitergeht.
       
       Armenien als „russlandfreundlich“ zu sehen, scheint auf den ersten Blick
       Sinn zu ergeben. Armenien ist [5][Teil des von Russland dominierten
       Verteidigungsbündnisses OVKS,] kauft Waffen von Russland, russländische
       Soldaten sind im Land stationiert, und armenische Politiker:innen sind
       beziehungsweise waren lange vorsichtig mit Kritik Richtung Moskau.
       
       ## Zwei mächtigere Feinde
       
       Schon 2017 und 2018 habe ich auf Reisen im Land Politiker:innen,
       Aktivist:innen und andere Menschen getroffen, die wussten, dass der
       Verbündete Russland auch Waffen an Aserbaidschan verkaufte. Manche
       verteidigten das als Russlands Recht, aber schon nach ein paar Nachfragen
       sagten die meisten, dass Armenien einfach keine andere Wahl habe, als sich
       an Russland anzulehnen. Armenien grenzt an zwei sehr viel mächtigere
       Feinde. Aserbaidschan und die Türkei, beide miteinander verbündet, bedrohen
       Armenien von zwei Seiten, Politiker:innen in beiden Autokratien reden
       regelmäßig davon, Teile Armeniens zu erobern oder es gleich ganz
       auszulöschen.
       
       Russland wurde in Armenien lange Zeit als Schutzmacht angesehen, zu der es
       keine Alternative gibt. Dass das falsch ist, steht spätestens fest, seit
       Russland nicht verhindert hat, dass Aserbaidschan im Dezember 2022 [6][den
       Latschin-Korridor blockiert] hat, die einzige Verbindungsstraße von
       Karabach nach Armenien. Aserbaidschan hat Karabach erst ausgehungert und es
       dann erobert, die russländischen „Friedenstruppen“ haben nichts dagegen
       getan.
       
       [7][Zu guter Letzt hat Deutschland gegenüber Armenien eine besondere
       Verantwortung.] Als das Osmanische Reich 1915 und 1916 alles versuchte, um
       seine armenische Minderheit mit Massakern und Todesmärschen auszulöschen,
       wussten das Diplomaten und Offiziere des Deutschen Kaiserreichs, die im
       Land waren. Die Führung in Berlin entschloss sich, das systematische Morden
       an 300.000 bis 1,5 Millionen Armenier:innen zu ignorieren, viele
       befürworteten den Genozid sogar.
       
       Angesichts dieser Geschichte und heutigen aserbaidschanischen und
       türkischen Drohungen gegen Armenien ist es irgendetwas zwischen fahrlässig,
       geschmacklos bis Beihilfe zum Krieg wenn deutsche Politiker:innen
       [8][vor allem in CDU/CSU] sich jahrelang und ohne nennenswerte Konsequenzen
       von Aserbaidschan schmieren ließen (googeln Sie „Aserbaidschan-Connection“)
       oder [9][die deutsche EU-Kommissionspräsidentin] Ursula [10][von der Leyen
       Aserbaidschan im Juli 2022 als verlässlichen Partner bei der
       Energieversorgung] bezeichnet hat.
       
       So wie deutsche Gier, deutsche Korruption und deutsche
       Wirtschaftsinteressen die Autokratie in [11][Russland stärker gemacht und
       zum Krieg in der Ukraine beigetragen] haben, so geschah dies auch im Falle
       der aserbaidschanischen Aggression gegen Armenien. Sich dafür zu
       interessieren, was dort geschieht, wäre das Mindeste, was „wir“ tun können,
       die hier leben. Von denen, die Politik machen, wäre sehr viel mehr zu
       erwarten: Sanktionen gegen Aserbaidschan.
       
       27 Sep 2023
       
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