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       # taz.de -- KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Und vorm Fenster das Elend des KZ
       
       > Mitten auf dem Gelände des einstigen KZ Neuengamme steht das
       > Kommandantenhaus. Dort wohnte Lagerleiter Max Pauly mit Familie. Eine
       > Ortsbegehung.
       
   IMG Bild: Heute gibt es Wiesen neben dem Kommandantenhaus, damals Tongruben und Baracken für die KZ-Häftlinge
       
       Neuengamme taz | Ein kleines weißes Holzhaus im skandinavischen Stil. Vor
       der Tür ein Apfelbaum, drumherum eine Wiese samt Hecke, dahinter eine
       schlanke Allee. Idyllisch wirkt der Ort in den Vier- und Marschlanden am
       Ostrand Hamburgs und Bergedorfs. Von Feldern umgeben, Gewächshäuser im
       nahen Dorf – und über allem eine märchenhafte Stille.
       
       In Wirklichkeit aber steht man auf dem weitläufigen Gelände der
       [1][KZ-Gedenkstätte Neuengamme], wo 80.000 Häftlinge festgehalten wurden,
       von denen mindestens 42.900 starben. Und quasi zwischen ihnen, mitten im
       Gelände, stand dieses weiße Haus – ab Ende 1944 Wohnstatt des damaligen
       Lagerkommandanten Max Pauly. Seine Frau war kurz zuvor verstorben, also
       musste die Schwägerin mit einziehen, als Hüterin seiner fünf Kinder.
       
       Lange hat die Familie nicht dort gewohnt: 1945, bei Kriegsende, tauchten
       alle in Paulys Heimat in Dithmarschen unter. Die britischen Alliierten
       fanden ihn trotzdem, stellten ihn in den Hamburger [2][Curiohaus-Prozessen]
       vor Gericht und verurteilten ihn 1946 zum Tode.
       
       ## Die heile Welt der „Villa Kunterbunt“
       
       Max Pauly ließ sich 1944 in Neuengamme – zuvor war er Kommandeur im KZ
       Stutthof – ein im Vergleich zur Villa des Auschwitz-Kommandanten Rudolf
       Höß (dessen Familienleben dort Thema des kürzlich in Cannes prämierten
       Films „The Zone of Interest“ ist) eher kleines Haus auf dem Gelände bauen.
       Mit dem adretten Vorbau samt Eingangstreppchen atmet es, sich das
       Skandinavische im Sinne de NS-Ideologie als „nordisch-arisch“ aneignend,
       die heile Welt der „Villa Kunterbunt“.
       
       Wie es möbliert war, weiß man nicht genau, dabei haben nach 1945 doch
       Angestellte des Gefängnisses dort gewohnt, der „Nachnutzung“ des früheren
       KZ. Später hatte der Freundeskreis der Gedenkstätte – Initiator des
       Besuchsprogramms für einstige osteuropäische ZwangsarbeiterInnen – dort
       sein Büro.
       
       Grundriss und Raumaufteilung seien aber original, sagt
       Gedenkstätten-Mitarbeiterin Alexandra Köhring, die das erst seit Kurzem
       öffentlich zugängliche Haus zum Projektraum „NS-Verfolgte aus dem östlichen
       Europa“ umgestaltet hat. Original-Dekor aus den 1940ern gibt es dabei
       wenig: Der Holzboden ist erhalten, ein Stück Blumentapete an der Wand.
       Ansonsten erinnert, abgesehen von einigen Fotos von Pauly und dem frisch
       gebauten Haus, nichts daran, dass hier einst ein NS-Täter wohnte.
       
       Neugierig läuft man durch die wenigen lichten Räume, beiläufig schaut man
       aus dem Fenster, erkennt Wiesen, Bäume, Lagerreste. „Alle Fenster sind noch
       am alten Platz“, sagt Frau König da, und man versteht: Damals waren hier
       keine gemähten Wiesen. Da lag vorm Schlafzimmerfenster die Tongrube, der
       härteste „Arbeitsplatz“ im Lager. Bis zur Erschöpfung mussten die Häftlinge
       hier Ton stechen für das nahe Klinkerwerk, aus dem die „Führerstadt
       Hamburg“ gebaut werden sollte. Die Arbeit war hart, die Aufseher waren
       brutal, die Todesraten unter den Häftlingen hoch. Dem Lagerleiter,
       überhaupt der SS, war es egal. Man konnte ja jederzeit „auffüllen“.
       
       ## Hundezwinger und Stacheldraht
       
       Und weiter zum nächsten Fenster: Hier sah (und hörte) man die Hundezwinger,
       dazu in der Ferne Wachtürme und Stacheldrahtzaum. Und wenn die Familie im –
       mutmaßlichen – Wohnzimmer saß, fiel der Blick auf die einstigen hölzernen
       Häftlingsbaracken und den backsteinernen „Häftlingsblock 1–4“, heute Sitz
       der Gedenkstättenverwaltung. Zur Arbeit ließ sich der Kommandant täglich
       mit dem Auto abholen – zu Fuß wären es fünf Minuten gewesen. Die Mahlzeiten
       nahm die Familie in den nahen SS-Garagen ein, wo heute eine Ausstellung zu
       den Täterbiografien zu sehen ist.
       
       Was Paulys Kinder damals empfanden? Wie sie später darüber dachten? Keines
       von ihnen wollte reden über das Leben in diesem trügerischen Idyll, dessen
       Aura man sich schwer entziehen kann. Vielleicht gab es ja ein glückliches
       Familienleben, abgespalten vom Leid da draußen. Pauly jedenfalls tat alles
       für die Seinen: Er ließ die für das Haus verwendeten
       Häftlingsbarackenelemente verstärken und dämmen, damit es warm und heimelig
       wäre. Für die Häftlinge galt das nicht.
       
       Und heute, wie geht man um mit diesem Ort? Soll man die Besuchenden
       ermutigen, dem Täterblick nachzuspüren, mit ungewissem Resultat? Nein,
       entschied die Gedenkstätte, wir balancieren das aus: Informationen über
       den Täter einerseits, Ausstellungen und Projekte zur den Opfern
       andererseits, wobei Letzteren mehr Raum gewährt wird.Ja, denkt man, das ist
       eine gelungene Umwidmung, und dann geht man heim – durch die Allee, über
       den riesigen Appellplatz zur Bushaltestelle mit den wogenden Feldern.
       Versucht standhaft, sich nicht von der Schönheit einfangen zu lassen. Und
       tut es am Ende doch, um das darunter liegende Grauen zu ertragen.
       
       30 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/
   DIR [2] /Hamburgs-Psychiatrie-arbeitet-NS-Zeit-auf/!5499268
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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