URI: 
       # taz.de -- Marsch der Abtreibungsgegner*innen: „Pro Life? Am Arsch“
       
       > Tausende demonstrieren in Berlin und Köln gegen das Abtreibungsrecht,
       > darunter auch Rechte. Queerfeminist*innen stellen sich dagegen.
       
   IMG Bild: Unter Einsatz von Schlagstöcken nahm die Polizei Gegendemonstrierenden in Köln ihre Banner ab
       
       Berlin/Köln taz | „Kölle!“, ruft eine Rednerin von der Bühne am Kölner
       Heumarkt. „Alive!“ soll die Menge zurückrufen. Anfangs fallen die Antworten
       verhalten aus, dann aber wird lauter und lauter gerufen: „Kölle alive“: für
       den ersten Kölner „Marsch für das Leben“ haben die
       Abtreibungsgegner*innen sich der Karnevalshochburg angepasst. In
       Berlin ruft eine Vertreterin der „Jugend für das Leben“ am Brandenburger
       Tor derweil laut „Wir sind …“ ins Publikum, das ihr ferienlagermäßig mit „…
       Pro Life“ antworten soll.
       
       Zum 19. Mal gehen unter dem Slogan „Marsch für das Leben“ Menschen gegen
       das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche auf die Straße – [1][erstmals
       zeitgleich zur Berliner Demo auch in Köln]. Eine „Verdopplung“ seiner
       größten Veranstaltung hatte der Bundesverband Lebensrecht (BvL) sich von
       diesem zweiten Standort erhofft. So ganz hat das zwar nicht geklappt, aber
       es gehen doch deutlich mehr Menschen gegen körperliche Selbstbestimmung auf
       die Straße als noch im vergangenen Jahr. Damals waren es rund 3.500, die in
       Berlin demonstrierten. Diesmal zählte die taz knapp 3.000 Menschen in
       Berlin und etwa 2.000 in Köln.
       
       ## Christ*innen neben Rechten
       
       Am Kölner Heumarkt stehen zwei junge Frauen am Stand des BVL. Sie erzählen
       von Schwangerschaftskonfliktberatungen, in denen Frauen Abtreibungen als
       einzige Option nahegelegt werde. Ob es solche Einseitigkeit auch von der
       anderen Seite gebe? „Ja, bestimmt“. Abtreibungen seien aber eben auch keine
       normale Option, in Extremfällen sei sie aber vertretbar, beispielsweise
       wenn das Leben der Mutter gefährdet sei.
       
       Die Teilnehmer*innen sind in großer Mehrheit aus einer christlichen
       Motivation hier. Junge Menschen mit kleinen Kreuzen an Halsketten und
       Vertreter*innen der Boomer-Generation in Hemd oder Bluse dominieren das
       Bild. Die „Katholischen Tempelritter Deutschland“ fallen mit ihren weißen
       Kutten mit aufgestickten roten Kreuzen deutlich auf. In deren Broschüre ist
       zu lesen, dass „völlige Hingabe an das Vaterland und den Glaube“ zu den
       Anforderungen an Mitglieder zählen. Ein halbes Dutzend schwarz gekleideter
       Menschen schwenkt schwarz-rot-goldene Flaggen. Sie stellen sich als
       Tanzgruppe „Glory fight“ vor. Deutschsein ist für sie „Ausdruck der
       Großartigkeit Gottes“.
       
       Regelmäßig versammeln sich auf dem „Marsch für das Leben“
       Abtreibungsgegner*innen, Christ*innen, Bischöfe, konservative
       Politiker*innen, aber auch Rechtsradikale. Was sie eint, sind ihre
       Positionen zu dem, was sie Lebensschutz nennen: unbedingten Schutz von
       Embryonen, gegen Schwangerschaftsabbruch, gegen Eizellspende und
       Leihmutterschaft, gegen Beihilfe zum Suizid und aktive Sterbehilfe.
       
       Dass die Abtreibungsgegner*innen ausgerechnet nach Köln expandieren,
       ist kein Zufall. Dort haben sie Rückenwind durch das erzkonservative
       Bistum. Dessen Kardinal Rainer Maria Woelki schickte auch in diesem Jahr
       wieder ein Grußwort an den Marsch. Der Bund der Deutschen Katholischen
       Jugend im Erzbistum Köln hingegen hatte zum Boykott des Marschs aufgerufen:
       Es sei „nicht hinnehmbar, dass Christ*innen Seite an Seite mit
       Rechtsextremist*innen auf die Straße gehen oder gar zusammenarbeiten“.
       
       Auf der Bühne am Heumarkt spricht Paul Cullen von der Initiative „Ärzte für
       das Leben“. Eine Interaktion zwischen Arzt und Patient dürfe niemals mit
       dem Tod des Patienten enden, so Cullen. Danach spricht Susanne Wenzel,
       Vorsitzende der „Christdemokraten für das Leben“. Die Gruppe steht den
       Unionsparteien nahe und hatte vorab einen Veranstaltungshinweis für den
       „Marsch für das Leben“ auf der Webseite der CDU platziert, was innerhalb
       des Kölner Ratsbündnisses, in dem neben der CDU auch die Grünen und Volt
       sitzen, für Verwerfungen gesorgt hatte.
       
       Es gebe „zum ersten Mal eine Regierung in Berlin, die aktiv gegen das Leben
       vorgeht“, sagt Wenzel. Die Ampelkoalition lässt derzeit eine
       Expert*innenkommission prüfen, ob Schwangerschaftsabbrüche außerhalb
       des Strafrechts geregelt werden könnten – ein Albtraum für die
       Abtreibungsgegner*innen.
       
       ## Abtreibung wird mit Holocaust gleichgesetzt
       
       Von der Bühne direkt am Brandenburger Tor in Berlin tönt derweil seichte
       Popmusik: „Segnende Hände für die Stadt“, trällert die Band. Die Menschen
       in der ersten Reihe heben die Arme. Grüne und rote Luftballons steigen in
       die Luft. Es wirkt wie ein Familienfest – wäre da nicht die Insel aus
       Holzkreuzen direkt vor der Bühne, an die zwei Männer gerade noch weiße
       Rosen knoten. Ein „Gedenkfeld für die Kinder vor der Geburt“ sei das, sagt
       Alexandra Linder vom Bundesverband Lebensrecht. Es soll die weißen
       Holzkreuze ersetzen, mit denen die Abtreibungsgegner*innen in den
       vergangenen Jahren durch die Straßen gezogen sind.
       
       Es seien „schwierige Zeiten“, sagt Linder: Die Abtreibungszahlen seien
       gestiegen und „niemanden interessiert das“. Vor ihr reihen sich die
       Schilder, die der BvL an die Teilnehmenden ausgegeben hat: „It’s a child,
       not a choice“, steht da, oder: „Töten ist keine ärztliche Kunst“. Andere
       halten Heiligenbilder in die Höhe. Wer Schwangerschaftsabbrüche als Teil
       der Gesundheitsversorgung bezeichne, vertrete eine „Ideologie, der die
       Menschen egal sind“ und sei „frauenfeindlich“, sagt Linder.
       
       Im Publikum hält einer ein Schild hoch, das den Fachkräftemangel in
       Deutschland mit Schwangerschaftsabbrüchen in Verbindung bringt, während ein
       anderer ein T-Shirt trägt, dessen Aufschrift Abtreibungen mit dem Holocaust
       gleichsetzt. Ein Schild am Fahrrad eines Teilnehmers warnt vor der
       „Corona-Diktatur“. Auch AfD-Politiker*innen laufen mit beim Marsch, etwa
       der Europaabgeordnete Joachim Kuhs, Vorsitzender der Gruppe „Christen in
       der AfD“.
       
       „Wir haben nicht in Gottes Schöpfung einzugreifen und Kinder im Mutterleib
       zu töten“, sagt ein junger Mann. In seiner Hand hält er ein BvL-Schild, auf
       dem ein Mann am Strand ein Baby in die Luft wirft. „Danke Papa“, steht
       darauf. Das sei für sei seinen Vater, sagt der 24-Jährige. „Es ist doch
       schön, zu wissen, dass Gott uns geschaffen hat und dass er einen Plan für
       uns hat“, sagt die junge Frau neben ihm.
       
       Die 19-Jährige und ihr Freund sind aus Oberfranken mit einem Bus angereist,
       den die örtliche evangelische Gemeinde organisiert hat. Aus mehreren Orten
       gab es Anreisen nach Berlin oder Köln mit dem Bus, organisiert von
       Gemeinden, von Privatpersonen und von der CDU-nahen Gruppe
       „Christdemokraten für das Leben“. Auf der Bühne warnt ein Redner vor der
       Legalisierung aktiver Sterbehilfe, die er konsequent als „Euthanasie“
       bezeichnet. „Wiederholt nicht die Geschichte“, warnt er.
       
       ## Queerfeministischer Gegenwind in Berlin
       
       Ungestört sind die Abtreibungsgegner*innen nicht. Schon am Vortag
       haben in Berlin Aktivist*innen Sprüche wie „Queer as fuck“ und „My Body
       My Choice“ auf die Straße entlang der Demoroute geschrieben. Slogans, die
       plötzlich auch inmitten der Menge vor der Bühne ertönen, während
       gleichzeitig bunte Farbwolken aufsteigen. Unter Geschubse der Teilnehmenden
       werden die feministischen Störer*innen von der Polizei aus der Menge
       geführt.
       
       Auf der gegenüberliegenden Seite des Brandenburger Tors wehen derweil
       mehrere Regenbogenflaggen. Mehrere hundert Feminist*innen haben sich
       hier versammelt. „jedes Jahr gehen wir auf die Straße – weil wir gezwungen
       sind, der anderen Seite nicht die Straße zu überlassen“, ruft eine Rednerin
       vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung.
       
       Sie erinnert an zehntausende ungewollt Schwangere, die jedes Jahr infolge
       illegaler und unsicherer Abtreibungen sterben. An Millionen, die wegen
       Komplikationen im Krankenhaus behandelt werden müssen. „Pro Life? Am
       Arsch“, ruft sie denen zu, die Schwangerschaftsabbrüche in der Illegalität
       sehen wollen. „Wogegen sie wirklich sind? Gegen Menschenrechte!“ Rund 1.000
       Menschen sind in Berlin für das Recht auf Selbstbestimmung auf der Straße.
       Neben dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung hat auch das
       queerfeministische Bündnis „What the Fuck“ mobilisiert und mehrere
       Kundgebungen angemeldet.
       
       Anders als in so manchem Vorjahr können die knapp 3.000
       Abtreibungsgegner*innen ungehindert ihren Demozug antreten. Doch die
       drei Lautsprecherwagen, aus denen voll aufgedrehte Musik dröhnt, können die
       Rufe nicht übertönen, die ihnen immer wieder entgegenschlagen: „Haut ab“,
       „Blut an euren Händen“, „My body, my choice, raise your voice.“
       
       ## Lebensschützer*innen in Köln trotz Polizei blockiert
       
       In Köln unterlaufen die Gegendemonstrant*innen die Polizeikette,
       kaum, dass die Kundgebung beginnt. Sie drängen mit Trillerpfeifen und
       Trommeln bis an den Rand der Kundgebung vor. Die Worte von der Bühne sind
       auch direkt davor kaum zu verstehen. „Warum gibt es hier keine vernünftigen
       Lautsprecher?“, ärgert sich eine Person im Publikum. Der „Marsch für das
       Leben“ ist zwar leiser, von den Teilnehmer*innenzahlen ist er aber
       ebenbürtig. Etwa 2.000 Menschen stehen auf jeder Seite.
       
       Als der Marsch loslaufen soll, ist die Route blockiert. Die Kölner Polizei
       leitet die Demo auf eine Nebenstraße um, die allerdings kurz darauf
       ebenfalls blockiert ist. Unter Einsatz von Schlagstöcken nehmen die Beamten
       den Blockierenden einige Banner ab, aber die Blockade bleibt.
       
       Am frühen Nachmittag ist Luzie Stift von Pro Choice Köln mit dem bisherigen
       Verlauf zufrieden: Man habe sich dem Marsch wirkungsvoll entgegengestellt.
       Dieser sei ein Ausdruck des Antifeminismus, der ein zentrales Bindeglied
       zwischen christlichen Fundamentalist*innen, Konservativen und der extremen
       Rechten sei. Im Umfeld der Demonstration habe man einige bekannte
       Rechtsextremist*innen aus dem Rheinland gesichtet.
       
       16 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Marsch-der-Abtreibungsgegnerinnen/!5956895
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dinah Riese
   DIR Tobias Pastoors
       
       ## TAGS
       
   DIR IG
   DIR sexuelle Selbstbestimmung
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Berlin
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
   DIR GNS
   DIR Reproduktive Rechte
   DIR Katholische Kirche
   DIR Abtreibungsgegner
   DIR Schwerpunkt „Marsch für das Leben“
   DIR Demonstration
   DIR Antifeminismus
   DIR Geburtenrate
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR sexuelle Selbstbestimmung
   DIR Paragraf 218
   DIR Schwerpunkt Feministischer Kampftag
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Protest gegen Pro-Life-Bewegung: Kampf um Selbstbestimmung
       
       Am Samstag marschieren Abtreibungsgegner:innen durch Berlin und Köln.
       Queerfeministische und antifaschistische Bündnisse stellen sich dagegen.
       
   DIR Antifeministische Gewalt: Bedroht, beleidigt, angegriffen
       
       Die neue Meldestelle Antifeminismus der Amadeu Antonio Stiftung legt
       erstmals Zahlen vor. Über 372 Fälle wurde berichtet.
       
   DIR Statistisches Bundesamt: Teenagergeburten gehen zurück
       
       Weltweit und in Deutschland ist die Zahl der Teenagergeburten stark
       gesunken. Durchschnittlich sind es 6 Kinder je 1.000 junge Frauen in
       Deutschland.
       
   DIR Linkenanfrage zu Schwangerschaftsabbruch: Ampel ahnungslos
       
       Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag versprochen, die
       Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen zu verbessern. Was wurde
       daraus?
       
   DIR Demos von Abtreibungsgegnern: Nicht wegducken vor den Rechten
       
       Befördern progressive Gesetzesvorhaben den Rechtsruck in der Gesellschaft,
       und soll man sie deshalb lassen? Auf keinen Fall!
       
   DIR Marsch der Abtreibungsgegner*innen: Unter bürgerlichem Deckmantel
       
       Am Samstag versammeln sich Abtreibungsgegner*innen wieder beim
       jährlichen „Marsch für das Leben“. Zum ersten Mal ziehen sie durch zwei
       Städte. Ein Zeichen neuer Stärke?
       
   DIR Abtreibungsgegner unter sich: EKD kann auch reaktionär
       
       Mit ihrer Teilnahme an der „Woche für das Leben“ verortet sich die oft
       weich gespült wirkende evangelische Kirche in einer frauenhassenden Kultur.
       
   DIR Unter dem Deckmantel Soziale Arbeit: Ideologie macht Schule
       
       Soziale Arbeit? Gruppen wie die „Aktion Lebensrecht für Alle“ verbreiten
       antifeministische und christlich-fundamentalistische Inhalte unter
       Teenagern.