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       # taz.de -- Wachstumskritisches Denken: Degrowth für Dummies
       
       > Die Degrowth-Bewegung befasst sich damit, wie eine Welt ohne globales
       > Wirtschaftswachstum aussehen kann. Wir erklären nochmal ganz von Anfang
       > an.
       
   IMG Bild: Schrumpfen für das Klima – das forderten auch schon Aktivisti auf einer Fridays-for-Future-Demo
       
       „Eine schrumpfende Wirtschaft als Zielvorgabe auszugeben, halte ich für
       falsch“, dann würden Investitionen für den Klimaschutz ausbleiben. Das
       sagte Robert Habeck im September auf einer Energiewende-Konferenz der
       Heinrich-Böll-Stiftung. Der Minister für Wirtschaft und Klima hält von
       Degrowth und Suffizienz, also einem Herunterfahren des Bedarfs an
       Ressourcen und Energie, nicht so viel.
       
       In der anschließenden Diskussion widerspricht Energie-Ökonomin Claudia
       Kemfert deutlich. Natürlich müssten wir in den umweltschädlichen Bereichen
       auch schrumpfen, sagt sie. Der Applaus ist laut.
       
       Immer mehr Menschen erkennen, dass Wirtschaftswachstum und Klimaschutz
       nicht so richtig zusammenpassen. Auch laut [1][IPCC-Bericht] zeigen
       Studien, dass „nur ein Postwachstums-Ansatz eine Klimastabilisierung unter
       2 Grad ermöglicht“. Auch wenn es unbequem wird und Zerwürfnisse
       vorprogrammiert sind – wenn wir die planetaren Grenzen respektieren und die
       Klimakrise in den Griff kriegen wollen, müssen [2][wir über Degrowth
       reden].
       
       Was meint eigentlich Degrowth? 
       
       [3][Bei Degrowth geht es] um Wirtschaftswachstum und dessen Folgen. Das
       Ziel ist es, den Verbrauch von Energie und Ressourcen ganzheitlich zu
       reduzieren und eine Wirtschaft zu betreiben, die sicher und gerecht
       innerhalb der planetaren Grenzen funktioniert.
       
       Wer hat sich das ausgedacht? 
       
       Den Startschuss für die Debatte gab wohl der [4][Bericht] „Die Grenzen des
       Wachstums“ der Denkfabrik Club of Rome von 1972. Dessen zentrale Aussage:
       Auf einem endlichen Planeten kann es kein unendliches Wachstum geben. Das
       klingt 50 Jahre später, im Angesicht der Klimakrise, noch einleuchtender
       als damals. Dennoch haben sich so gut wie alle Staaten noch immer dem Ziel
       [5][des unendlichen Wachstums] verschrieben.
       
       Wachstum ist doch super, was ist das Problem damit? 
       
       Wenn die Wirtschaft wächst, profitieren alle davon – so die gängige
       Erzählung. Ein kurzer Faktencheck belehrt uns aber eines Besseren: Seit dem
       Pandemiebeginn 2020 gingen [6][laut dem NGO-Verbund Oxfam] zwei Drittel des
       globalen Vermögenszuwachses an das reichste Prozent der Menschen. In
       Deutschland waren es sogar 80 Prozent. Nochmal zum
       auf-der-Zunge-zergehen-lassen: 99 Prozent der Menschen haben nur krümelige
       20 Prozent des Vermögenszuwachses abbekommen. Vom Wirtschaftswachstum
       profitieren nicht alle.
       
       Aber Schrumpfen ist doch auch nicht besser, oder? 
       
       Tatsächlich ist fast nichts dafür gemacht, unendlich zu wachsen. Vielleicht
       ein paar ideelle Werte wie Glück, Frieden und Gerechtigkeit. Das
       allermeiste aber, das in der Natur wächst, ist irgendwann erwachsen. Babys,
       Bäume, Bienen – alle erreichen irgendwann eine optimale Größe, damit sie
       das tun können, wofür sie auf der Welt sind. Nur die Wirtschaft scheint
       dazu verdammt, ewig weiterzuwachsen. Das System ist auf immer mehr Gewinn
       ausgerichtet, das bedeutet mehr Investitionen und dadurch entsteht
       Wachstum.
       
       Und genau da wird es problematisch, denn so wie die Weltwirtschaft derzeit
       aufgebaut ist, muss sie exponentiell wachsen – so um zwei bis drei Prozent
       pro Jahr. Bei drei Prozent Wachstum würde sie sich alle 23 Jahre
       verdoppeln. In 100 Jahren wäre sie schon zwanzig Mal größer als heute. Das
       ist ziemlich dramatisch, denn wachsende Wirtschaft zieht einen wachsenden
       Bedarf an Energie und Ressourcen mit sich.
       
       Aber kann es nicht auch grünes Wachstum geben? 
       
       Stellen wir uns vor, wir hätten die Energiewende geschafft: Überall blitzen
       Solarmodule auf den Dächern, am Horizont drehen sich die Rotoren in
       riesigen Windradwäldern. Der ganze Strom: erneuerbar. Und die ganze
       Wirtschaft: weiter in Betrieb.
       
       Schweine und Rinder werden auf solarbetriebenen Farmen gehalten, mit einem
       E-Lkw zum Schlachter gefahren und als Steak mit 100 Prozent Ökostrom
       Medium-rare gebraten. Aber die Monokulturen für den Futteranbau, die mit
       Dünger verseuchten Böden, die Plastikverpackung, alles noch da.
       
       Unser Materialbedarf explodiert – und zwar auch, wenn wir klimaneutral
       werden. Es müssten schließlich weiterhin klimafreundliche Zahnbürsten,
       Kameras und Akkuschrauber hergestellt werden. Und das, obwohl die Gewinnung
       der dafür benötigten Rohstoffe immer aufwendiger und teurer wird – die
       günstigen, einfach zugänglichen wurden schon abgebaggert.
       
       Bei dem Begriff der Energiewende, die für grünes Wachstum zwingend
       notwendig wäre, schwingt mit, dass es irgendwann geschafft sei. Noch ein
       letztes Windrad im Dezember 2045 und das war’s. Bei aktuellen
       Wachstumszielen müsste sich jedoch weltweit die Leistung aller Windräder,
       Solarpaneele und Wasserkraftwerke etwa alle 30 bis 40 Jahre verdoppeln,
       rechnet der Anthropologe Jason Hickel in seinem Buch „Less is More“ vor.
       Und zwar für immer. Sein ernüchterndes Resümee: „Green Growth is not a
       thing.“
       
       Also soll die Wirtschaft einfach aufhören, zu wachsen? 
       
       Wir sind bei der großen Preisfrage angelangt. Eins funktioniert nämlich
       ziemlich sicher nicht: Einfach die Wirtschaft runterfahren, da hat Robert
       Habeck recht. Momentan ist ein sinkendes Bruttoinlandsprodukt ein Fehler im
       System und kann zu weniger Investitionen und erhöhter Arbeitslosigkeit
       führen. Das will Degrowth aber auch gar nicht.
       
       Was denn dann? 
       
       [7][In der Degrowth-Utopie] würde sich die Schere zwischen armen und
       reichen Menschen innerhalb eines Landes und auch zwischen Staaten
       schließen. Die Macht von Wirtschaft und Milliardär*innen würde
       deutlich abnehmen. Dafür bräuchte es neue Gesetze. Nein, das bedeutet nicht
       Kommunismus. Eine Reparatur-Garantie oder eine konsequente Besteuerung von
       multinationalen Konzernen wäre keine Planwirtschaft, sondern läge in der
       demokratischen Verantwortung regierender Parteien. Durch gezielte
       staatliche Regulation ließe sich die Wirtschaft positiv beeinflussen.
       
       Die Produktion würde sich am wahren Bedarf der Menschen orientieren und
       nicht an künstlich geschaffenen Marketingversprechen. Einige
       Industriezweige würden in Rente gehen: fossile Geschäftsmodelle – klar.
       Privatjet-Manufakturen und SUV-Fabriken auch.
       
       Angestellte würden sukzessiv an den Unternehmen, in denen sie arbeiten,
       beteiligt. Und ein Maximallohn, gekoppelt an den Mindestlohn, wäre wohl
       genauso Konsens wie ein nach oben hin limitiertes Erbe. Ein bedingungsloses
       Grundeinkommen könnte erweitert werden zur bedingungslosen Grundversorgung,
       inklusive Energie, Internet und Lebensmitteln. Die Ausgestaltung der
       Maßnahmen läge weiterhin bei den demokratisch gewählten Vertreter*innen.
       
       Wie sollen wir da jemals hinkommen? 
       
       Das erreichen wir sowohl mit neuen Gesetzen und Rechten als auch, indem wir
       die Einstellung in unseren Köpfen ändern. Es geht darum, die Natur und den
       Planeten als Verbündete, als Verwandte zu begreifen, statt ausschließlich
       als Ressource und Investmentchance.
       
       Wichtig ist dafür auch, [8][wie wir Fortschritt in Zukunft bemessen
       wollen]. Statt einem wachsenden Bruttoinlandsprodukt (BIP)
       hinterherzujagen, in dem Umweltkatastrophen positiv verbucht werden (der
       Wiederaufbau des Ahrtals hat das BIP steigen lassen, denn die Schäden
       fließen nicht ins BIP ein, dafür aber die Umsätze der Unternehmen, die sich
       etwa um den Wiederaufbau kümmern), misst man das, was wirklich zählt.
       
       Da gibt es zum Beispiel den Human Development Index, der die
       Lebenserwartung, Bildung und das Bruttoeinkommen pro Kopf in einem Land
       zusammenfasst. Oder den Happy Planet Index, bei dem lateinamerikanische
       Staaten ziemlich abräumen. Er spiegelt Lebenserwartung, Lebenszufriedenheit
       und Ungleichheit wider – im Verhältnis zum ökologischen Fußabdruck eines
       Landes.
       
       Degrowth ist schon lange kein Nischenthema mehr. Im Mai fand eine ganze
       Konferenz dazu im EU-Parlament statt, die Beyond Growth Conference. Drei
       Tage lang haben sich die Abgeordneten über Alternativen zum Wachstumszwang
       ausgetauscht.
       
       Der Gedanke an Degrowth-Maßnahmen lösen bei den meisten
       Politiker*innen und Wähler*innen gerade eher Schnappatmung aus als
       einen verträumten Seufzer. Die Degrowth-Utopie klingt ungewohnt, für viele
       unvorstellbar. Und das ist verständlich, schließlich haben wir uns über
       Generationen an eine Welt mit Wirtschaftswachstum gewöhnt.
       
       Noch viel länger haben wir uns jedoch an eine Welt gewöhnt, die uns mit
       ausreichend Nahrung, sauberem Wasser, erträglichen Temperaturen und Luft
       zum Atmen versorgt. Für eine der beiden Welten müssen wir uns entscheiden.
       Denn beides auf einmal geht nicht.
       
       Dieser Text ist auch im taz-Newsletter TEAM ZUKUNFT erschienen, den ihr
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       30 Sep 2023
       
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   DIR [1] https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg3/
   DIR [2] /Studie-ueber-Wachstum-und-Emissionen/!5957828
   DIR [3] /Degrowth-Kongress-in-Leipzig/!5704346
   DIR [4] https://www.clubofrome.org/publication/the-limits-to-growth/
   DIR [5] /COP27/!5893425
   DIR [6] https://www.oxfam.org/en/take-action/campaigns/survival-of-the-richest
   DIR [7] /Erderwaermung-und-Degrowth/!5917286
   DIR [8] /Wohlstand-fuer-die-ganze-Welt/!5919308
   DIR [9] https://q5kf46ry.sibpages.com/
       
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