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       # taz.de -- 40 Jahre Deutsche Aidshilfe: Sex, Blut und Tränen
       
       > Der Kampf gegen das HI-Virus veränderte die Gesellschaft. Zur Prophylaxe
       > gehörte auch das öffentliche Sprechen über Sexuelles – und Schwules.
       
   IMG Bild: Protest gegen die Diskriminierung HIV-Positiver und Menschen mit AIDS, Berlin 1988
       
       Was sich damals zum öffentlich ausgebreiteten Horror auswachsen sollte,
       waberte zuvor als Gerücht schon in einigen Berliner Schwulenkneipen umher:
       „Hast du davon gehört?“ Oder auch: „Na, was da los ist …“ Es war dann dem
       Spiegel vorbehalten, in der Ausgabe vom 30. Mai 1982 öffentlich zu machen,
       was zuvor nur geraunt worden war: Eine Erkrankungshäufigkeit, vielleicht
       sogar eine Epidemie, die sich, so der Spiegel, als „[1][Schreck von
       drüben]“ zeigte.
       
       Drüben, das waren die USA, und der Schreck hatte mit Fällen einer bislang
       nur wenige Menschen betreffenden, aggressiven Krebsvariante zu tun, dem
       Kaposi-Sarkom. Ein körperliches Zeichen, das den Beginn eines vollständigen
       Ausfalls des eigenen Immunsystems sichtbar machte. Betroffene:
       hauptsächlich schwule Männer.
       
       Die Nachrichten aus den USA wirkten in der Schwulenszene – zunächst in der
       Westberliner, der Hamburger, Münchner, Frankfurter und Kölner – wie ein
       langsam einträufelndes Gift: ein „Schwulenkrebs“, eine „Pest der Schwulen“,
       eine göttliche Heimsuchung, wie religiöse Kreise in den folgenden Jahren
       spekulierten, gerecht obendrein, weil Homosexuelles ihrem Verständnis nach
       ein Abfall vom guten Glauben und eine Todsünde sei.
       
       Unklar war, wozu das, was viele Jahre später als Aids weltweit berühmt
       wurde, alles führen würde. In der Szene fühlte man sich, rätselnd, weil so
       vieles nicht benennbar war, wie in einem Verhängnis gefangen. Als sei man
       einem bizarr tödlichen Phänomen ausgeliefert.
       
       ## Gesellschaftlich verfolgt, biblisch bestraft
       
       Die Nachrichten förderten schiere Panik. Eine Erkrankung, die hauptsächlich
       schwule Männer trifft? Eine Infektion, die quasi ins schwule Begehren
       eingeschrieben ist? Die Szene war auf dem falschen Fuß erwischt worden.
       Wenige Jahre erst nach der ersten Änderung des Schwule verfolgenden
       Paragrafen 175 ein körperliches Signum, das zerstört? War man nicht anders
       gepolt, auf Lebenslust, auf Sex, Drugs & Disco? Auf das Ausleben
       polizeilich nicht verfolgter Begehrenslust? Und dann die „Strafe“, ein
       Virus, Sodom und Gomorrha: Es war, als würden biblische Prophezeiungen
       wahr.
       
       Es brauchte teils brutale, aus liberaler und linker Perspektive ja
       erfolgreiche politische Kämpfe, um die Zumutungen religiöser und ordnungs-
       wie strafwütiger Kreise abzuwehren. Es stellte sich rasch heraus, dass Aids
       durch eine meist sexuell übertragene Infektion ausgelöst wird. Dass es
       sexueller Akte bedarf, bei denen es zu mikroskopisch kleinen Verletzungen
       der Schleimhäute kommt, die zu einer Ansteckung führen. Dass diese
       Infektion eine lange Zeit, oft Jahre latent bleibt, ehe sie zum
       körperlichen Verfall, zur Dysfunktion der körperlichen Abwehrkräfte führt.
       
       Es war nicht der Fingerzeig einer strafenden religiösen Instanz, der zu
       Aids und damals sehr oft zum Tod führte. Sondern es waren bestimmte, gar
       nicht mal spektakuläre sexuelle Praxen, die zur Infektion führen konnten.
       
       ## Das Zaubermittel: Prophylaxe
       
       In der Bundesrepublik verlief der politische Streit zwischen
       ultrakonservativen Kräften mit bayerischen Politikerinnen* vorneweg
       und jenen gesundheitsliberalen um Heiner Geißler, später auch der
       Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth. Die eine Seite wollte, grob
       gesprochen, Zwangstests bei Bewerbern für den öffentlichen Dienst und bei
       einem positiven Ergebnis diese aussortieren. Süssmuth, in Allianz mit den
       realitätstüchtigen Kräften der Schwulenbewegung (und ihren Freundinnen*,
       aus welcher Szene auch immer), setzte das einzig vernünftige
       gesundheitspolitische Programm zu Aids durch: Prophylaxe durch Aufklärung.
       Auch sexuelle Aufklärung.
       
       Die Idee: Um sich vor Ansteckung zu schützen, braucht es kein Abschwören
       von Sex schlechthin, sondern eine Prophylaxe, die vom Austausch
       körperlicher Flüssigkeiten absieht. Das Zaubermittel war ein Tool, das
       eigentlich selbst bei heterosexuell orientierten Menschen wegen der Pille
       als ausgestorben galt – das Kondom, der Präser, das Verhüterli. Und das
       wurde öffentlich propagiert, im Fernsehen, mit teuer gedrehten TV-Spots,
       die zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurden, mit öffentlichem Reden
       überhaupt.
       
       Erstmals musste öffentlich über Sex geredet werden, über Sperma, Anales,
       Vaginales, über, alles in allem, blood, sweat and tears. Also über das,
       worüber die Republik jenseits pornografisch orientierter oder
       undergroundiger Nischen sonst hüstelnd schwieg.
       
       Das Süssmuth-Programm, so hält es der wichtigste Chronist der Geschichte
       von Aids in Deutschland, [2][unser verstorbener Kollege Martin Reichert],
       fest, war geeignet, auch das Schwule schlechthin aus den Sphären der
       Unsagbarkeit herauszuholen. Ohne die Christdemokratin Süssmuth und ihre
       Autorität in ihrer Partei wäre die Aidsepidemie in Deutschland nie so
       erfolgreich handlebar geworden.
       
       ## Ein Netz „amateurhafter Laien“
       
       In der Wissenschaft, in der Medizin vor allem, war es so überhaupt erst
       möglich, ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Patientinnen* – überwiegend
       schwule Männer – zu gewinnen. Voraussetzung war allerdings, dass in allen
       größeren Städten hierzulande sich Aidshilfen gründeten, meist energisch ins
       Werk gesetzt durch schwule Männer und viele Frauen, die eine graswurzelige
       Gesundheitsversorgungssituation schufen, auf die wiederum die politische
       Sphäre partnerschaftlich zurückgreifen konnte.
       
       1983, vor 40 Jahren, gründete sich in Berlin die Deutsche Aidshilfe – ihre
       Impresarios waren die Krankenschwester Sabine Lange, der Berliner Verleger
       und Aktivist Bruno Gmünder, schwule Männer wie Stefan Reiß und der Wirt der
       schwulen Kerlskneipe „Knolle“ waren ebenso dabei. Eine Held*innentat aus
       der Not, die vom Momentum des „Niemand wird uns helfen, wenn wir es selbst
       nicht tun“ lebte.
       
       So entstand quasi als Vorbild für etliche andere Felder moderner
       Gesundheitspolitik ein Netz von Betroffenenorganisationen, die vom
       politischen Akteursfeld und der Medizin nicht mehr als amateurhafte Laien
       abgetan wurden: Hinter den Aidshilfen standen ja auch die Wut und die
       Leidenschaft, die sich aus der Panik speisten, bloß nicht sterben zu
       wollen.
       
       ## Sich selbst als Familie verstehen
       
       Aber kann Aids heute als Erfolgsgeschichte begriffen werden? Als Komplex,
       bei dem die Opfer am Ende die Nase vorn hatten? Und bei dem eine Kultur der
       Diskretion – Sprich nicht drüber! also nicht über Sexuelles, besser:
       Schwules – in die Schranken gewiesen werden konnte?
       
       Für eine Bilanz des gesundheitspolitisch und kulturell wie politisch
       Positiven gab es zu viele Tote. Eine halbe Generation von schwulen Männern
       – sie vor allem! – war zu Tode gekommen. Weil es ihnen an Medikamenten
       fehlte, die es im Sinne stabiler Überlebenschancen erst seit 1996 gibt.
       
       Hinzu kommt: Hierzulande ließe sich ein Horrorepos von tagelanger Dauer
       drehen, in dem nur von jenen Beerdigungen die Rede ist, bei denen die
       Familien der Gestorbenen alles dafür taten, aggressiv und empathielos die
       liebsten Freundinnen* des Nichtmehrlebenden auszusperren, denn im Tod ist
       Schwulsein besonders igittigitt.
       
       Schwule Männer hatten zu lernen, dass ein verdruckstes Dasein ihnen nicht
       wirklich hilft, vor allem nicht beim Sterben. Die [3][Regenbogenszene]
       lernte, sich selbst als Familie zu verstehen – weil die Familien, aus der
       ihre Angehörigen stammten, hochtoxisch waren.
       
       ## Die dramatischen Zeiten verdimmen
       
       Und zu verstehen war auch, dass ein Gutteil der Panik in den frühen 80er
       Jahren auch mit Selbsthomophobie zu tun hatte, mit der Ablehnung als
       männerbegehrende Wesen selbst.
       
       Das ist nicht als Vorwurf zu verstehen. Die antihomosexuelle Stimmung in
       der Bundesrepublik war selbst ein epidemisches Phänomen – die
       Stigmatisierung Homosexueller schrieb sich in ihre Körper ein, bis hin zum
       Glauben, man habe den Tod durch eine Immunschwächekrankheit nachgerade
       verdient.
       
       Dass dem empörenderweise begegnet werden musste, war klar. Ist es da ein
       Wunder, dass die CSDs, die queeren Paraden, seit Mitte der 80er Jahren
       immer stärker wuchsen? Wer in ihnen nur Karneval entdecken wollte – und
       gerade Linke taten dies sehr gern –, hatte das Drama nicht verstanden: Aids
       konnte nur Furcht und Elend verbreiten, weil man sich im Innersten selbst
       für schuldig hielt. Die Zeiten sind nicht ganz vorbei, aber sie verdimmen.
       Immerhin.
       
       Dank der furiosen [4][pharmakologischen Forschung und Entwicklung] konnte
       Aids zwar nicht besiegt werden. Wer das HI-Virus in sich trägt, behält es
       auch. Aber man kann mit Hilfe von Tabletten die Viruslast fast bis auf eine
       Nichtnachweisgrenze minimieren. Die Todesangst, traumatisierend für die
       Betroffenen von einst, ist viel weniger präsent.
       
       2 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.spiegel.de/wissenschaft/schreck-von-drueben-a-58996258-0002-0001-0000-000014338963
   DIR [2] /Martin-Reichert/!a85/
   DIR [3] /Schwerpunkt-LGBTQIA/!t5025674
   DIR [4] /Suche-nach-HIV-Impfstoff/!5817062
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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