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       # taz.de -- Buch über chinesisches Denken: Wie China diskutiert
       
       > Wer wissen will, wie China diskutiert, wird hier fündig: ein Sinologe und
       > ein Journalist haben Texte chinesischer Denker in einem Band vereinigt.
       
   IMG Bild: Wohin steuert China? Ein Plakat kündigt den Besuch des Präsidenten Xi Jinping in Qinghai an
       
       Im Jahr 134 v. Chr. traf Kaiser Wu der Han-Dynastie eine weitreichende
       Entscheidung. Auf der Suche nach einer Staatsideologie berief er die
       führenden Köpfe seiner Zeit zur Beratung in die Hauptstadt. Aus diesem
       Wettstreit der Geister ging der Konfuzianer Dong Zhongshu mit seiner Vision
       einer Kulturgemeinschaft von Himmels Gnaden als Sieger hervor.
       
       Mit dieser Rückbesinnung auf das Gedankengut des Konfuzius grenzte sich
       Kaiser Wu gegen die vom Huang-Lao-Daoismus geprägte Laisser-faire-Politik
       seiner Vorgänger sowie von der auf Effizienz und Kontrolle setzenden
       legalistischen Staatskunst der vorangehenden Qin-Dynastie ab. Es war die
       Geburtsstunde Chinas als Kulturnation.
       
       Die in dem Buch „Chinesisches Denken der Gegenwart. Schlüsseltexte zu
       Politik und Gesellschaft“ versammelten Aufsätze von führenden
       zeitgenössischen chinesischen Intellektuellen wirken wie eine Wiederholung
       dieses Wettbewerbes der klügsten Geister um eine Neuorientierung des
       Landes. Diesmal stehen sich Liberale, Kommunisten und Konfuzianer
       gegenüber.
       
       Diese drei Grundpositionen verbinden sich mit unterschiedlichen
       historischen Perspektiven. Die Liberalen wollen das Erbe von dreißig Jahren
       wirtschaftlicher Öffnung durch eine konstitutionelle Demokratie sichern.
       Die Kommunisten sehen die Partei als Bewahrer der seit den Opiumkriegen
       bedrohten nationalen Souveränität. [1][Die Konfuzianer wiederum greifen auf
       den oben erwähnten zweitausend Jahre alten Gedanken der kulturellen Einheit
       zurück], den es in einer durch die westliche Moderne geprägten Welt zu
       behaupten gelte.
       
       ## Das moderne China als multiethnische Nation
       
       Das Herausgeberteam [2][Daniel Leese] und Shi Ming präsentiert diese
       konfligierenden Positionen anhand von vier Themenbereichen in 21 zwischen
       2005 und 2020 entstandenen Beiträgen. Im ersten Themenbereich zum
       chinesischen Selbstverständnis liegt der Fokus auf dem Status des modernen
       China als multiethnischer Nation. Was verbindet eigentlich diese Ethnien zu
       einer Einheit? Und wie steht es um das Verhältnis dieser modernen
       chinesischen Nation zum chinesischen Reich der Vergangenheit?
       
       Der zweite Themenbereich zu Staatsdenken und Herrschaftslegitimation wartet
       mit überraschenden Positionen auf: Während Gan Yang für eine Verschmelzung
       der drei Traditionen Liberalismus, Kommunismus und Konfuzianismus plädiert,
       sieht Wang Hui in der konstitutionellen Demokratie die Fortführung der
       maoistischen Massenlinie. Jiang Shigong wiederum betont erst die harmonisch
       inklusive Natur des Konfuzianismus, um dann die Bedeutung des
       revolutionären Kampfes zur Erlangung von Autonomie hervorzuheben.
       
       Das Plädoyer für eine politische Liberalisierung ist am überzeugendsten bei
       der Auseinandersetzung mit der ländlichen Modernisierung im dritten
       Thementeil. Wie, so fragt Qin Hui, sollen die Bauern vernünftig
       wirtschaften, wenn grundlegende Eigentumsfragen ungeklärt bleiben?
       
       Im vierten Themenbereich zur Zukunft Chinas klaffen die Meinungen stark
       auseinander. Der eindringliche Appell zur Fortführung der Reformen durch Hu
       Shuli steht neben einer von Song Shaopeng vorgetragenen feministischen
       Kapitalismuskritik.
       
       Auf die Einlassungen zur Überlegenheit der konfuzianischen Regierungskunst
       durch Jiang Qing folgt die technologische Zukunftsvision einer
       algorithmischen Verwaltung von Yu Qingsong. Wie eine Antwort auf die
       Diskussion von Stärken und Schwächen des chinesischen Systems durch Fang
       Ning wirkt die von Xu Zhangrong vorgetragene Abrechnung mit der
       gegenwärtigen Regierung.
       
       ## Verdienstvolle Arbeit
       
       Es ist das große Verdienst der beiden Herausgeber, dass diese
       unterschiedlichen Positionen für den deutschen Leser verständlich
       präsentiert werden. Die Übersetzungen sind flüssig und durch kurze,
       kenntnisreiche Fußnoten ergänzt.
       
       Die Einleitung gibt Orientierung zum Stand der innerchinesischen Debatte,
       das Nachwort zur Rolle des chinesischen Intellektuellen in der Geschichte
       vermittelt ein Verständnis für die Haltung der chinesischen Autoren. Zudem
       wird in jeden Teilbereich sachkundig eingeführt. Auch eine Auswahlbiografie
       und Hinweise zu den Originalquellen fehlen nicht.
       
       Dabei muss man mit den von den Herausgebern vertretenen Ansichten nicht
       übereinstimmen. Ist der stark ausgehöhlte Kommunismus wirklich
       einflussreicher als der wiederentdeckte Konfuzianismus, wie Leese
       behauptet? Sollte man bei der historischen Herleitung der Rolle des
       Intellektuellen nicht eher bei den hundert Schulen zur Zeit der Streitenden
       Reiche anfangen als in der konfuzianisch geprägten Han-Zeit, wie dies Shi
       Ming tut?
       
       Durch Auswahl, Übersetzung und Präsentation der chinesischen Quellen
       ermöglichen die Herausgeber erst eine Diskussion derartiger Fragen. Es ist
       zu hoffen, dass dies nicht das letzte Projekt dieses Gespannes sein wird.
       
       29 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Wolfgang Schwabe
       
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