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       # taz.de -- Homosexuelle NS-Opfer: Endlich nicht mehr schweigen
       
       > Die Ausstellung „Homosexuelle Männer im KZ-Komplex Ravensbrück“ holt
       > unterdrückte Geschichten ans Licht. Den Familien waren sie oft peinlich.
       
   IMG Bild: Holzschnitte zur Biographie des Gefangenen Gustav Herzberg
       
       BERLIN taz | Die Ausstellung begann mit einer Idee, und die hatte der in
       Kreuzberg lebende Architekt Helmuth Hanle schon vor einigen Jahren. Er
       hörte davon, dass im Konzentrationslager Ravensbrück, knapp eine Stunde
       nördlich von Berlin gelegen, auch Tausende von Männern interniert waren.
       Zwecks Zwangsarbeit für Textilunternehmen, auch, um dort Uniformen oder
       andere Soldatenkleidung zu reparieren. Männer – in Ravensbrück? Ist das
       nicht wesentlich ein Lager der Frauen gewesen, vielleicht auch, ohne dies
       genau [1][durch Quellen belegen zu können, lesbischer Frauen]?
       
       Hanle recherchierte und fand heraus, dass unter diesen Männern ein
       erheblicher [2][Anteil von homosexuellen Männern] war, wenigstens einige
       Hundert, vielleicht noch mehr, es bedarf auch hier weiterer Forschung.
       Worauf es aber ankam bei dieser Idee, war sowieso, das Gedenken an diese
       schwulen Männer zu begründen. Aber mehr noch, so Hänles Witwer, der in
       Polen geborene Künstler und Kunstprofessor Piotr Nathan, in einer
       Ausstellung beispielhafte Schicksale dieser schwulen Männer zu zeigen, ihre
       Biografien zu ermitteln, sie sagbar zu machen, herauszuholen aus einer
       Opferanonymität.
       
       Wie bei so vielen Projekten, die sich Initiativen nicht aus den
       Institutionen, sondern von [3][Einzelpersonen und ihren Freundinnen*
       verdanken], war es nicht so leicht, überhaupt Aufmerksamkeit zu gewinnen.
       Am Ende war es die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, die auf dem Gelände
       ihrer deprimierend, aber angemessen durch Splitterasphalt grau gehaltenen
       Erinnerungslandschaft der Idee eine Baracke, in der die schindende, oft
       tödliche Zwangsarbeit an den Klamotten verrichtet wurde, zur Verfügung
       stellte.
       
       Und so stellt es sich dar: Ganz am Ende des Areals der Gedenkstätte liegt
       dieses Bretterkonstrukt, als ob Besuchende zunächst Mühsal zu verrichten
       haben, ehe sie diese Ausstellung erreichen. Es beschleicht einem das
       Gefühl, die unbeliebtesten Häftlinge in der KZ-Hierarchie sollten irgendwie
       und allenfalls an einem Katertisch zu erkennen gegeben werden.
       
       ## Künstlerisch umgesetzt
       
       Das Besondere dieses Projekts ist allerdings nicht, dass überhaupt einige
       wenige meist nicht den Nationalsozialismus überlebende Menschen konkret
       kennenzulernen sind, sondern dass Piotr Nathan diese Geschichten durch 26
       seiner Studierenden (an der [4][Muthesius-Kunsthochschule in Kiel]) quasi
       bearbeiten ließ. Junge Nachgeborene setzten sich also mit den Details der
       Biografien künstlerisch auseinander.
       
       Und wie das gelang! Und für die Zuschauenden gelingt: Das Schicksal von
       Gustav Fritz Herzberg, geboren 1907 in Breitenstein, Harz, bekommt ein
       Bild, das mehr ist als eine Fotografie, festgenommen von der Kripo Berlin
       allein wegen des Verdachts, schwul (wie man heute sagen würde) zu sein. Als
       Mittdreißiger starb er nach Arbeit in einem Steinbruch. Seine Familie
       sprach nicht über ihn, besser: weshalb er im Nazivolksheim nicht genehm
       war. Erst seine Großnichte, die unerschrockene Xenia Trost, holte ihn aus
       der Sphäre des Beschweigens in selbstbewusst anmutende Sprechfähigkeit.
       
       So erhalten diese [5][Opfer des Nationalsozialismus] ein wenig von dem
       zurück, was ihnen unbedingt genommen werden sollte: Würde. Denn das
       scheint, so sagt es Mitkurator Piotr Nathan, am stärksten nach 1945 das
       Skandalöse gewesen sein. Die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus
       waren ihren allenfalls diskret nachfragenden Familien oft peinlich, denn
       als Schwule waren sie meist ja auch bei ihnen nicht gelitten, nicht nach
       dem NS-Regime Teil einer trauernden Familienerzählung.
       
       ## Meist keine Entschädigung
       
       Von einem wird in der Ausstellung berichtet, der für die
       Familienangehörigen nicht einmal existierte, als schämte man sich seiner.
       Homosexuelle erhielten in der Bundesrepublik trotz einiger juristischer
       Mühen Einzelner keine Entschädigung für erlittene NS-Verfolgung, Haft oder
       KZ-Internierung. Die verfassungsrichterliche Rechtsprechung wies alle
       Ansinnen zurück, denn die Verfolgung von Homosexuellen sei nicht spezifisch
       nationalsozialistisch gewesen.
       
       Piotr Nathan hat „Homosexuelle Männer im KZ-Komplex Ravensbrück“ nicht
       allein kuratiert, ihm waren unter anderem der Historiker Rainer Hoffschildt
       und die Künstlerin Katharina Jesdinsky stark behilflich. Dass die Schau
       nicht nur künstlerisch konzipiert werden konnte, ist ein kleines Wunder,
       weil die Studierenden so beherzt mitwirkten. Ein Wunder auch, dass die
       Hürden in diesem Erinnerungswerk aus dem Weg geräumt werden konnten:
       Schwule NS-Opfer – es ist ja nach wie vor so, dass ihnen [6][nicht gerade
       erinnerungskulturelle Teppiche voller Respekt] ausgerollt würden.
       
       Helmuth Hanle, den Ideenhaber, empörte das stark. Sein erfolgreich
       realisiertes Projekt erlebte er nicht mehr. Am 19. März 2022 ist er,
       65-jährig und seit Längerem krank, aus dem Leben gegangen. Piotr Nathan hat
       diese Ausstellung mit der Liebe und der Wut des Trauernden durchgesetzt.
       
       5 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] https://muthesius-kunsthochschule.de/
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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