# taz.de -- Unterricht im ukrainischen Kriegsalltag: Schulglocken und Warnsirenen
> Nach der langen Sommerpause beginnen auch in der Ukraine wieder Schule
> und Uni. Alles könnte sein wie immer – wenn da nicht der Krieg wäre.
IMG Bild: Schutz vor Angriffen: Kinder beim Unterricht in einer U-Banstation in Kyjiw
September ist in der Ukraine der Monat, in dem nach der langen Sommerpause
der Klang von Schulglocken wieder zu hören ist. Seit anderthalb Jahren
mischt sich der Glockenklang vielfach mit dem des Luftalarms. Am ersten
Herbsttag begleite ich meinen Sohn zu seinem ersten Tag an der Universität.
Die Straßen von Lwiw sind sonnendurchflutet. Lächelnde Schulkinder in
Vyshyvankas, traditionell bestickten ukrainischen Hemden, kommen uns
entgegen. Es ist, als sei alles wie immer und der Krieg nur ein böser
Traum.
Während in der Ukrainischen Katholischen Universität (UCU) zum Beginn des
neuen Studienjahres Feierlichkeiten stattfinden, trinke ich auf dem Campus
einen Kaffee und betrachte dabei die fröhlichen Studentinnen und Studenten,
ihre glücklichen Eltern und die würdevollen Lehrkräfte. Umarmungen,
Selfies, neue Bekanntschaften: So war auch mein erster Unitag vor 30
Jahren. Nichts ist anders als damals, außer den Smartphones. Sie wollen
lernen, so wie wir lernen wollten, Spaß haben, einander kennenlernen.
Aber was erwartet diese jungen Menschen, die trotz des Kriegs in der
Ukraine geblieben sind, die hier studieren wollen und ihre Zukunft in
diesem Land sehen? Hier zum Beispiel dieser hochgewachsene junge Mann mit
schulterlangen lockigen Haaren. Du hättest wie Hunderte andere mit deiner
Mutter nach Polen fahren können oder nach Frankreich, dort in eine
Sozialwohnung ziehen und warten, bis der Krieg und die mögliche Einberufung
vorbei sind.
Und du, Mädchen mit der bestickten Schleife im Haar, du könntest dich für
ein Stipendium bewerben und in Krakau studieren, oder in München. Aber ihr
seid beide geblieben. [1][Wie mein Sohn Iwan], der mir noch vor einem Jahr
geschrieben hatte, wie cool es im Mathe-Gymnasium in Potsdam sei und dass
ihm Deutsch besser liege als Englisch. Aber im Juni letzten Jahres
verkündete er dann, dass er in der Ukraine sein Abitur machen und auch nur
hier mit dem Studium beginnen wolle.
Die genaue Anzahl all der jungen klugen Köpfe, die nach dem 24. Februar
2022 die Ukraine verlassen haben, kennen derzeit weder die Regierung noch
Soziologen. Aber es heißt, es seien bedeutend weniger als diejenigen, die
beschlossen haben, weiter in ihrem Land zu lernen.
Der Luftalarm unterbricht meine Gedanken. Die Sirene heult eine Straße
weiter. Im Nu verstummt die studentische Gesellschaft auf dem Campus und
wir gehen in den Schutzkeller hinunter. An dieser Uni wird der Alarm sehr
ernst genommen – [2][Anfang Juli ist eine russische Rakete in ein Wohnhaus
nur 300 Meter von hier entfernt eingeschlagen]. Danach lebte ein Teil der
Menschen aus dem zerstörten Haus für eine Weile auf dem Campus.
Im Schutzkeller lerne ich die Mutter einer Studentin aus Mykolajiw kennen.
Beide sind schon glücklich darüber, dass man in Lwiw nicht nur offline
studieren, sondern einfach die Straßen entlanggehen kann, ohne Angst vor
Raketen- oder Granateinschlägen. Während die jungen Leute im
Luftschutzkeller ein buntes Treiben veranstalten, lese ich Nachrichten. In
Kyjiw informierte die Polizei am 1. September, dass alle weiterführenden
Schulen vermint seien.
[3][In Charkiw können Kinder in Metrostationen lernen]. Im neuen Schuljahr
müssen Schulkinder Kurse zu Minensicherheit und Drohnenkontrolle besuchen.
Wir in der Ukraine suchen jetzt das, was uns vereint, außer dem Hass auf
Putins Russland. Und das sind – unsere Kinder. Unsere Zukunft. Für sie
müssen wir unser Bestes tun.
Aus dem Russischen von [4][Gaby Coldewey]
Finanziert wird das Projekt von der [5][taz Panter Stiftung].
Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der [6][Verlag edition.fotoTAPETA]
im September 2022 herausgebracht.
20 Sep 2023
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## AUTOREN
DIR Juri Konkewitsch
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