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       # taz.de -- Russische Klassiker und der Ukrainekrieg: „Puschkin ist doch nicht schuld“
       
       > Dana Bjork leitet das russischeTheaters in Riga. Im Gespräch verteidigt
       > sie die Beschäftigung mit russischer Kultur trotz des Krieges.
       
   IMG Bild: Das sowjetische Befreiungsdenkmal in Lettland wird gestürzt, August 2022
       
       taz: Frau Bjork, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt auch die
       lettische Gesellschaft vor eine Zerreißprobe. Knapp über ein Viertel der
       Bevölkerung gehört der russischen Minderheit an. Was hat sich seit dem 24.
       Februar 2022 in Lettland verändert? 
       
       Dana Bjork: Menschen, die schon vorher national eingestellt waren, meinen
       jetzt das moralische Recht zu haben, laut und aggressiv gegenüber
       denjenigen auftreten zu können, die hier seit Jahrzehnten leben und aus
       irgendeinem Grund die lettische Sprache nicht erlernt haben. Die
       öffentliche Welle von Anschuldigungen halte ich für absolut falsch. Diese
       Leute folgen dem Beispiel des Kreml-Regimes, sie erniedrigen diejenigen,
       die an all dem nicht schuld sind.
       
       Was bedeuten diese Veränderungen für Sie persönlich? 
       
       Früher musste ich mich nie verteidigen, weder mein Recht auf meine Meinung
       noch mein Recht, Russisch zu sprechen. Jetzt fühle ich mich in der Stadt,
       an öffentlichen Orten, unwohl, wenn ich Russisch spreche. Ich spüre, dass
       die Mehrheit das als etwas [1][Negatives, ja Verbotenes wahrnimmt]. Mit
       meinem kleinen Sohn, er ist gerade zwei Jahre alt geworden, spreche ich auf
       der Straße immer Lettisch. Intuitiv habe ich das Gefühl, damit auch ihn vor
       schrägen Blicken Unbekannter zu schützen. Das ist alles sehr traurig.
       
       Einige fordern, Werke russischer Klassiker, wie zum Beispiel Alexander
       Puschkin oder Anton Tschechow, aus dem Programm zu nehmen, mancherorts
       wurden Veranstaltungen auch schon abgesagt. Können Sie das nachvollziehen? 
       
       Ich halte das [2][für eine große Dummheit.] Man soll nicht da nach
       Schuldigen suchen, wo es sie nicht gibt. Puschkin, aber auch zum Beispiel
       der Komponist Pjotr Tschaikowsky, sind doch nicht schuld an dem, was heute
       passiert. Ich bin absolut überzeugt, dass sie diesen Krieg nicht
       unterstützt hätten.
       
       Das Russische Theater in Riga stellt jeder Aufführung seit Kriegsbeginn
       einen Vorspann voran. Darin heißt es, das Theater sei kategorisch gegen
       Krieg und Aggression, unterstütze das ukrainische Volk. Und weiter:
       „Niemand von uns kann die Lage in der Ukraine direkt beeinflussen, aber
       jede/r kann Unstimmigkeiten in unserem gemeinsamen Haus Lettland
       verhindern.“ Warum haben Sie sich zu diesem Schritt entschieden? 
       
       Der Beginn des Krieges war für uns ein Signal, dass fortan [3][alles
       Russische unter Druck] geraten würde. Das heißt auch, das Russische
       Theater, ja die russische Kultur und Sprache überhaupt werden als eins mit
       den politischen Entscheidungen Russlands betrachtet. Wir wollen mit unserer
       Botschaft ausdrücken, dass das absolut nicht zutrifft. Gleichzeitig ist es
       jedoch unsere Aufgabe, für die russische Kultur und Sprache einzustehen.
       Außerdem ist uns sehr wichtig, dass sich die Spaltung in unserem Haus
       Lettland zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität nicht weiter
       vertieft. Die hiesige russische Bevölkerung unterstützt die Ideen und Werte
       unseres gemeinsamen Staates und nicht die des Nachbarn.
       
       Alle Ihre Vorstellungen finden, von einigen dramaturgischen Erfordernissen
       abgesehen, ausschließlich in russischer Sprache statt. Sprache ist in
       Lettland seit der Unabhängigkeit 1991 ein Politikum, heutzutage mehr denn
       je. Denken wir an verpflichtende Lettisch-Sprachtests für Angehörige der
       russischen Minderheit, deren Aufenthaltstitel an den Nachweis
       entsprechender Kenntnisse gekoppelt ist. Sprechen alle
       Schauspieler*innen in Ihrem Theater außer Russisch auch Lettisch? 
       
       Nicht alle, denn sieben Schauspieler*innen aus der Ukraine, der
       Russischen Föderation und Belarus, die vor dem Krieg geflohen sind und in
       Lettland ein neues Zuhause gefunden haben, arbeiten jetzt für uns. Deshalb
       haben wir vor Kurzem mit einem Trainingsprogramm für die lettische Sprache
       begonnen.
       
       Wie ist das Verhältnis unter den Künstler*innen, treten Konflikte auf? 
       
       Nein, im Gegenteil. Die Ukrainer*innen und die anderen, die vor nicht
       allzu langer Zeit aus Russland und Belarus ans Theater gekommen sind,
       halten zusammen. Meine Erklärung dafür ist folgende: Denjenigen, die aus
       Russland geflohen sind, tut es weh zu begreifen, dass ihr Heimatland solche
       Gräueltaten gegenüber anderen Menschen begeht. Diese Leute machen viel
       durch, denn sie fühlen sich schuldig, ohne eigenes Verschulden. Sie
       verspüren einen großen Schmerz, und dieses Gefühl teilen sie mit den
       Ukrainer*innen.
       
       Ist Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Thema auf der Bühne? 
       
       Bei uns gilt der Grundsatz: Das Russische Theater in Riga hat heute nicht
       das Recht zu schweigen. Deshalb haben wir unser Repertoire sofort an die
       neue Situation angepasst. Denn Theater ist doch auch ein Spiegel dessen,
       was aktuell passiert, und es macht das zum Thema, was gerade mit den
       Menschen vor sich geht.
       
       Können Sie ein konkretes Beispiel nennen? 
       
       Ein Stück, mit dem wir die Saison vor der Sommerpause beendet haben,
       handelt von einer Deportation nach Sibirien. Die Grundlage dafür ist ein
       biografisches Buch der EU-Abgeordneten Sandra Kalniete. Das Thema ist
       politisch, aber der Regisseur zeigt auch menschliche, humane Aspekte.
       Herausgekommen ist ein Mix – ein hartes, politisch schmerzhaftes Thema, das
       mit dem Regime der Sowjetunion zusammenhängt. Aber es geht eben auch um den
       Schmerz, das Schicksal des Einzelnen, der zu einem Spielball der Macht
       wird. Die Parallelen zu heute liegen auf der Hand.
       
       Inwiefern? 
       
       Auch jetzt leiden ganz normale Menschen. Ukrainer*innen, Russ*innen,
       Menschen anderer Nationalität in der Russischen Föderation. Sie verlieren
       die Familie, den Bruder, die Mutter, letztendlich sich selbst. Diejenigen,
       die zu uns ins Theater kommen, verstehen das und finden sich darin wieder.
       
       Wie war die Resonanz auf die Aufführungen? 
       
       Wir haben in der ersten Hälfte dieses Jahres am Anschlag gearbeitet, die
       Säle waren zu 100 Prozent ausverkauft. Zum Ende der Saison mussten wir
       sogar noch zwei zusätzliche Aufführungen ins Programm aufnehmen.
       
       Haben Sie eine Mission? Und wenn ja, welche ist das? 
       
       Unsere Zuschauer*innen sollen sich ein Bild machen, indem sie die
       Gegenwart durch das Prisma der Geschichten betrachten, die auf der Bühne
       erzählt werden. Das ist auch ein Appell an unsere gemeinsamen Werte als
       einer politischen Gemeinschaft. Wir wollen vor allem diejenigen im Publikum
       ansprechen, die noch nicht abschließend durchdrungen haben, was vor sich
       geht und auf welcher Seite sie sich positionieren sollen. Es geht darum,
       Menschen anzusprechen, die sich aus irgendeinem Grund immer noch der
       Realität verweigern und versuchen, den Krieg als Propaganda aus der Ukraine
       oder Lettland abzutun, weil sie in einer Welt leben, die sie sich selbst
       ausgedacht haben. Vielleicht werden wir die Älteren mit unserer Arbeit
       nicht überzeugen, aber ihre Nachkommen, Kinder und Enkel, können wir
       erreichen.
       
       Wie soll das genau funktionieren? 
       
       Wir fahren zweigleisig. Es wird eine neue Bühne geben, außerhalb der vier
       Wände des Theaters, wo intensiv mit jungen Schauspieler*innen
       gearbeitet wird und ein Kinderstudio zur Entwicklung schauspielerischer
       Fähigkeiten. Und wir organisieren Diskussionsplattformen, bei denen die
       Zuschauer*innen und Schaupieler*innen ins Gespräch kommen können.
       Von diesem Gedankenaustausch und den persönlichen Begegnungen erhoffe ich
       mir Synergieeffekte, auch im Hinblick auf einen Dialog.
       
       Kunst also als Brückenbauerin? 
       
       Unbedingt. Derzeit erleben wir einen Wendepunkt in der
       Menschheitsgeschichte. Gerade in solchen kritischen Momenten kommt der
       Kunst eine besonders wichtige Rolle zu.
       
       Werden auch im kommenden Herbst politische Stücke auf dem Spielplan stehen? 
       
       Ja, im Oktober haben wir eine Inszenierung von Caligula im Programm – eine
       vergangene Tyrannei. Das eröffnet die Möglichkeit, Tyranneien heutzutage zu
       thematisieren.
       
       1 Oct 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
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