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       # taz.de -- Gesänge im Fußball: „Es gibt nur ein’ Rudi Völler“
       
       > Musik und Fußball gehören untrennbar zusammen. Das zeigt sich selbst in
       > der tiefsten Provinz an Vereinshymnen und bekannten Musikern als
       > Sponsoren.
       
   IMG Bild: Das ist der eine aus dem Fangesang
       
       Das Runde muss ins Diskursive, verkündete das Programm zum [1][Festival
       Pop-Kultur] jüngst in Berlin. Das hieß konkret, Fußball „in verschiedenen
       Formaten queerfeministisch und postmigrantisch zu beleuchten“, zum Beispiel
       mit „dekolonialen (Anti-)Fitness-Workouts Fit for Fans und We Will Rock
       You“. So kann Fußball – olé, olé – heute auch klingen. Nicht nach
       „Doppelpass“-Laberei, die man aus Fernsehen und Kneipen kennt, sondern nach
       großstädtischem Bubble-Sprech. Zwischen beidem liegen Welten, ähnlich wie
       zuletzt zwischen den Ambitionen und den realen Titelchancen beider
       DFB-Auswahlteams bei ihren Weltmeisterschaften.
       
       Umso mehr lässt sich natürlich darüber fabulieren, wie alles besser und die
       Heim-EM der Männer nächstes Jahr trotzdem ein berauschendes Fest werden
       könnte. Der Staat zeigt sich jedenfalls willig, seinen Beitrag zu leisten,
       und fördert die Euro 24 mit Millionen. Was den verwunderten
       „Pop-Kultur“-Stammgästen denn auch erklärte, warum das Festival diesmal
       ausgerechnet einen Fußball-Schwerpunkt besaß. „Fit for Fans“ und „We Will
       Rock You“ leiteten sozusagen die popkulturelle Veranstaltungswelle ein, mit
       der im Land Fußballbegeisterung geschürt werden soll.
       
       Weil das wegen der schwächelnden Nationalelf halt nicht mehr so einfach wie
       früher ist, dürfte die Freude auch bei den DFB-nahen Kulturbringern groß
       sein, dass ein einziges Testspiel wieder Hoffnungsglück verbreitete.
       Deutlich hörbar am Fangesang [2][„Es gibt nur ein’ Rudi Völle]r“.
       
       ## Qualität ist Nebensache
       
       Man kann das Comeback des Stadionschunklers als lustige Petitesse
       betrachten. Aber Chants und Lieder – und auch ihr Fehlen – zeigten immer
       gut den Stand der Fußballeuphorie bezogen auf eine Mannschaft oder auf ein
       Turnier. Es gibt ja eine breite Palette an Fußballmusik, angefangen von
       Fangesängen über Vereinshymnen bis zu Schlagern, Rock- oder Rapsongs über
       Fußball. Musikalische Qualität spielt in dem Genre eine ziemlich
       untergeordnete Rolle. Oder um es fußballrhetorisch auszudrücken: Mit der
       Breite in der Spitze ist es nicht so doll. Nicht mal mit der Spitze in der
       Spitze.
       
       Das war selbst bei der WM 2006 so, wo Sportfreunde Stiller und Herbert
       Grönemeyer zwar heavy rotierende Lieder sangen. Aber in den Kanon der
       deutschen Popmusik schafften die es nicht. Trotzdem bildeten sie den
       Soundtrack des damaligen „Sommermärchens“. So wie 2014 die Vertonung des
       „Schland-wir-Gefühls“ durch Andreas Bourani auf dem Weg zum WM-Titel. „Ein
       Hoch auf uns“ war die Krönung der Fanmeilenbeschallung vor allem in Berlin,
       aber auch in anderen Großstädten.
       
       Seit den nuller Jahren ist Public Viewing ein wichtiger, allerdings vom
       Turniererfolg der Nationalmannschaften abhängiger Teil der
       Fußballunterhaltung. Es prägt das Bild vom Fußball als Massenevent, das
       ganze Großstädte auf die Beine bringt. Ob zur WM oder nach Europacupsiegen.
       
       Nicht nur in diesen Momenten tritt völlig in den Hintergrund, dass
       Fußballverrücktheit nicht allein in großen Städten grassiert, sondern auch
       in Kleinstädten und Dörfern. Unübersehbar die Vereinsfahnen, die an
       übergroßen Masten neben Einfamilienhäusern flattern. Ungezählt die
       Grillpartys fürs Rudelgucken.
       
       Fußball auf dem Lande, den gibt’s natürlich. Es existiert zwar keine (dem
       Autor bekannte) Studie, ob mehr Leute in der Stadt fußballbegeisterter sind
       als auf dem Land. Aber viel spricht dafür, dass die Unterschiede
       prinzipiell nicht so riesig sind. Man muss nur mal sehen, wie viele Fans
       aus dem Umland regelmäßig zu den Spielen in den großen Fußballstädten
       pilgern. Erkennbar an den Zaunfahnen, ob bei Hertha, Union, HSV, Werder
       Bremen oder Bayern München. Erst beim Singen der Vereinshymne verschmelzen
       die Herbeigeströmten zur homogenen Masse.
       
       ## Notfalls alleine singen
       
       Der Stadionchor klingt dann gewaltig und ganz anders, als wenn so eine
       Hymne bei einem Kleinstverein aus den Lautsprechern käme und vielleicht nur
       einzelne Zuschauer mitsängen. Das heißt jedoch nicht, dass die
       Kleinstvereine deshalb auf das verzichten wollen, was bei den Großen üblich
       ist, weil es eben zentraler Bestandteil der Fußballkultur ist: das Singen
       eines Vereinsliedes, das Stolz und Identifikation ausdrückt.
       
       Dass auch kleine Vereine ein Bedürfnis nach Hymnen haben, weiß Christian
       Wiesing. Der 49-jährige Osnabrücker ist Betreiber der Internetseite
       [3][Vereinshymnen.de]. Er komponiert Lieder für Provinzvereine. Begonnen
       hatte er vor 23 Jahren mit seinem Freund Peter Plogmann, nachdem sie erst
       eine Hymne für ihren eigenen kleinen [4][TUS Nahne] (Nahne ist ein Ortsteil
       von Osnabrück) geschrieben hatten. Daraus entwickelten sie ein
       Geschäftsmodell, das gut lief.
       
       Nach einigen Jahren hatten sie eine dreistellige Zahl von Kreis- bis
       Landesligavereinen mit individuellen Liedern beliefert. Ihre ein paar
       hundert Euro teuren Musikprodukte berücksichtigen textlich die spezifischen
       Vereinstraditionen, musikalisch folgten sie eher einheitlichen Standards.
       Egal, letztlich zählte hier das Ergebnis: Seither besitzen auch ziemlich
       unbekannte Fußballgemeinschaften wie SV Diestelbruch-Mosebeck, Sportfreunde
       Eichen-Krombach, SV Hagenow oder Empor Dranske eine eigene Hymne.
       
       Eine Frauenmannschaft hatte übrigens nie eine bestellt. Was schon deshalb
       schade ist, weil es das schwächelnde Geschäft hätte ankurbeln können. „Es
       ist deutlich weniger geworden“, sagt Christian Wiesing, der die Produktion
       inzwischen nur noch allein und so nebenbei betreibt. Die Aufträge würden
       jetzt mehr aus der Umgebung einkleckern, früher kamen sie aus ganz
       Deutschland.
       
       Das hat wohl auch mit dem Geschäftsklima zu tun, das nicht mehr so
       freundlich ist wie in den nuller und ersten zehner Jahren. Damals war die
       DFB-Männerauswahl stetig Mitfavorit bei Turnieren, der Vereinsfußball
       boomte. Die Entertainisierung des Fußballs schritt voran, befand sich aber
       noch vor der Überdrussgrenze. Inzwischen ist die Fußballeuphorie
       abgeklungen. „Ob bei den Herren oder Damen, alles geht ja momentan bisschen
       den Bach runter“, sagt Altherrenkicker Wiesing. „Auch die Coronazeit war
       hart.“
       
       Trotz allem ist der Fußball immer noch und überall von Begleitmusik
       umgeben. Vom Torjubeljingle in den Stadien über die Tor-des-Monats-Melodie
       bis zum WM-Song für das Frauenteam, der genauso platt war wie früher die
       WM-Schlager der DFB-Spieler. Und auf Youtube basteln irgendwelche User
       Fußballmusikvideos zusammen. So ähnlich war es eigentlich immer. Die
       Vertonung der Fußballmanie kam sowohl spontan von den Fans oder von
       kommerziellen Trittbrettfahrern, vorzugweise aus dem urbanen Raum.
       
       Die ersten Fußballsongs überhaupt entstanden Ende des 19. Jahrhunderts in
       Großbritannien, kurz nach der „Erfindung“ des modernen Fußballs. Mit der
       Einführung von klaren Fußballregeln wurde die Basis zur Popularisierung des
       Spiels gelegt. In den Music Halls sangen die Comedians erste Football
       Songs, Komponisten schufen erste Loblieder auf den Fußball und bestimmte
       Spieler.
       
       Auch in Deutschland, aber erst Jahrzehnte später, als die „Fußlümmelei“
       akzeptiert war. In den 1920er Jahren traten im Leipziger Krystallpalast,
       dem größten deutschen Varieté, Künstler auf, die über „Torwart Schwupp vom
       Fußballklub“ sangen. Die erste, einem hiesigen Fußballklub gewidmete
       Schallplatte, dem Deutschen Meister 1. FC Nürnberg, erschien 1921. Auch sie
       war Ausdruck des Massenwahns rund um den Sport – der Provinzler ebenso
       erfasste.
       
       Als Nürnberg und Hamburg zum Meisterschaftsfinale 1922 in Leipzig antraten,
       seien einige der 45.000 Fans auch aus dem Vogtland angereist, wie der
       Reporter des Fachblatts Fußball berichtete: „Dem Anhänger (des Autos)
       entstieg eine Reichenbacher Kapelleà la Jazz-Band. Drei Mann Blech, zwei
       Bandonions und eine wohltuende Pauke, die dem ganzen die Mayonnaise
       verlieh. Aus dem eigentlichen Postauto kletterten begeisterte Mitglieder
       des V.f.B. Reichenbach auf das Dach. Die Kapelle stellte sich auf den
       Anhänger und sorgte für Unterhaltung.“
       
       Als sich die Vereine aus den Großstädten zu Großklubs entwickelten und ab
       den 1970er Jahren (im Westen) immer mehr kommerzialisierten, ging die
       Schere zwischen Stadt und Land im Fußballwesen unweigerlich auseinander.
       Erfolgreiche Klubs wie der FC Bayern oder der HSV wandelten sich allmählich
       zu wirtschaftlichen Unternehmen. Was blieb, war die Fußballliebe auch in
       der Provinz. Das zeigte sich weniger in Gesängen auf Sportplätzen und in
       kleinen Stadien, aber an Schallplatten mit Fußballmusik, die vor allem in
       den 1980ern zu Hauf erschienen. Nicht nur in Dortmund, Gelsenkirchen und
       Bremen, sondern auch in Gohfeld, Holzwickede oder Diepholz, wo die örtliche
       SG eine Single von der ortsansässigen Schallplattenfabrik Pallas gespendet
       bekam.
       
       In der DDR, gab es keine Flut an Fußballplatten, weil der [5][VEB Deutsche
       Schallplatten] schlicht keine Kapazitäten dafür hatte. Schon gar nicht für
       Provinzvereine. Ein Album des Erfurter Bluesmusiker Jürgen Kerth enthielt
       1982 allerdings eine Hommage an alle Kreisligakicker: „Oh, wie würd’ ich
       euch beneiden“.
       
       ## Drei Kisten für ein Hallelujah
       
       Im benachbarten Franken lief der Soundtrack des Kreisligafußballs vier
       Jahrzehnte später richtig auf Hochtouren. Zehn Vereine aus dem Spielkreis
       Bamberg hatten sich 2020 an einem Hymnen-Contest der fränkischen Vereine
       beteiligt. Die Siegerprämie war klassisch unterklassig: drei Kästen Bier.
       
       Auch der TSV Altenmarkt in Oberbayern tummelt sich in den
       Fußballniederungen, verfügt aber über einen weltberühmten Musiker als
       Sponsor: DJ Hell hat seinen Heimatverein unter anderem mit Trikots
       ausgestattet, auf dem sein Logo prangt. Solch unterschwelliges Mäzenatentum
       ist verbreiteter, als man denkt. Auch Rosenstolz sponserten einst das
       Frauenteam von Tennis Borussia Berlin, während die Metalstars Heaven Shall
       Burn den Regionalligisten FC Carl Zeiss Jena aus thüringischem
       Lokalpatriotismus vorm Ruin bewahrten.
       
       Einen bekannten Fan aus dem Musikbiz, die Schlagersängerin Andrea Berg, hat
       auch die [6][SG Sonnenhof Großaspach]. Der selbsternannte „Dorfklub“ wurde
       1994 als Thekenmannschaft von Bergs Ehemann Uli Ferber, Spielerberater und
       später SG-Hauptsponsor, gegründet. 2014 schaffte der Verein aus dem
       8.000-Einwohner-Ort den Aufstieg in die Dritte Liga, wodurch er sich für
       einige Jahre als Verein aus der kleinsten Gemeinde im deutschen
       Profifußball platzierte. Aufsehen erregte er vor allem durch eine
       ungewöhnliche Stadt-Land-Verbindung mit der Fußballhochburg Dresden.
       
       2014 und 2015 waren tausende Dynamo-Fans zu Punktspielen ins Dorf gekommen,
       wohl auch wegen Andrea Berg, schließlich sind die Sachsen als
       Hardcore-Schlagerfans berüchtigt (Stichwort „Kaisermania“). Jedenfalls
       stimmten sie im Aspacher Stadion auch ein paar Berg-Schlager an, womit sie
       sich auch für den ungewohnt friedvollen Empfang bedankten. Von den
       Gastgebern gab es den Willkommensgruß „Aspach freut sich auf die
       Dynamo-Fans“ und kein offensives Polizeiaufgebot wie sonst.
       
       Beim Rückspiel revanchierten sich die Dynamo-Ultras mit Stadtführung und
       gemeinsamem Stadiongesang ohne Blockabgrenzung. Diese Geschichte summen
       sich die Fans in Großaspach und Dresden heute noch in die Ohren.
       
       8 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.pop-kultur.berlin/
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Rudi_V%C3%B6ller#Lied
   DIR [3] https://www.vereinshymnen.de/
   DIR [4] https://tusnahne.de/
   DIR [5] https://de.wikipedia.org/wiki/VEB_Deutsche_Schallplatten_Berlin
   DIR [6] https://www.sg94.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gunnar Leue
       
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