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       # taz.de -- Neue Asyldebatte: Faktenfrei und zerstörerisch
       
       > Union und FDP wollen einen neuen „Asylkompromiss“ und ein geschleiftes
       > Asylrecht. Wo bleibt der Aufstand zum Schutz des Grundgesetzes?
       
   IMG Bild: Auch Christian Lindner fordert eine „Wende“ in der Migrationspolitik
       
       Die deutsche Politik ist vollends aufgegangen in einer weitestgehend
       faktenfreien, aber zerstörerischen Debatte. Es [1][brauche einen
       „Asylkompromiss“ wie in den 1990er Jahren] – das fordert nicht nur CDU-Chef
       Friedrich Merz in der immer weiter eskalierenden politischen Debatte,
       sondern auch FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner. Wenn es mit den
       Grünen nicht gehe, solle er sie rausschmeißen, und dann mache man das
       zusammen, schlägt Merz Kanzler Olaf Scholz vor. Das könnte nicht mal nötig
       sein, denn der Grünen-Co-Vorsitzende Robert Habeck erklärte unlängst, man
       müsse wohl „moralisch schwierige Entscheidungen“ treffen.
       
       Denn genau [2][das war der Asylkompromiss von 1993], auf den sich
       hochrangige Politiker hier gerade erschreckend positiv berufen: Damals
       wurde das im Grundgesetz verankerte Asylrecht massiv ausgehöhlt. Vor allem
       Stimmen aus der Union fordern nun schon seit einer Weile, den letzten
       Stumpf dieses Rechts ganz abzuschaffen. Es ist zu befürchten: So, wie die
       Debatte sich immer weiter hochschraubt, ist es bis zur Grundgesetzänderung
       nicht mehr weit.
       
       Das würde an den Zahlen Geflüchteter zwar so gut wie nichts ändern: Diese
       Regelung greift ohnehin nur noch bei deutlich weniger als einem Prozent der
       Menschen, die Schutz bekommen. Viel relevanter sind das europäische
       Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention. Moralisch hingegen hat
       dieses deutsche Grundrecht einen enorm hohen Wert.
       
       Eingeführt wurde es Ende der 1940er Jahre als Lehre aus den Verbrechen des
       Nationalsozialismus. Damals war die internationale Staatengemeinschaft
       nicht willens, den aus Deutschland flüchtenden Jüd*innen Schutz zu
       bieten. Das Grundrecht auf Asyl in Deutschland ist auch eine direkte Folge
       dieses Versagens.
       
       Als es 1993 massiv beschnitten wurde, war das auch eine Reaktion auf den
       massiven Rechtsruck und die Wahlerfolge etwa der Republikaner. Was geschah,
       war aber bloß noch mehr rechte Gewalt. Die 1990er-Jahre sind heute auch als
       „Baseballschlägerjahre“ bekannt. Menschen starben in den Flammen des
       rassistischen Mobs, etwa in Solingen, nur kurz nach der
       Asylrechtsverschärfung.
       
       ## Ziel: Abschottung
       
       Abschottung und Entrechtung sind zum Mittel der Wahl geworden. Doch sie
       [3][führen nicht zu signifikant sinkenden Zahlen Geflüchteter] – darauf
       weisen Migrationswissenschaftler*innen unermüdlich hin, und das
       zeigt die Erfahrung. Vielmehr bräuchte es endlich nachhaltige Investitionen
       in Integration und Infrastruktur, für alle. Leider war politisch die
       vergangenen Jahrzehnte immer anderes wichtiger als bezahlbarer Wohnraum
       oder gute Schulen.
       
       Wirkungslos aber sind diese Abwehrmaßnahmen keineswegs: Sie sind eine
       enorme Gefahr für unsere Demokratie. Gewalt an den Grenzen greife „nach
       innen“, schreiben die Wissenschaftler Volker Heins und Frank Wolff in ihrem
       Buch „Hinter Mauern“. Sie beschädige die Institutionen des Rechtsstaats und
       der Demokratie – und sie fördere eine „Verrohung der zivilen Alltagsmoral
       durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche“.
       
       Und wo sind die Menschenmassen, die für das Grundgesetz auf die Straße
       gehen? Wenn diese Gesellschaft es heute hinnimmt, dass vor Krieg und Gewalt
       fliehenden Menschen ihre Grundrechte mal eben genommen werden – wozu ist
       sie dann morgen bereit?
       
       24 Sep 2023
       
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