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       # taz.de -- Demokratie und Nachhaltigkeit: Weich landen in der Zukunft
       
       > Freiheit und Zukunft, Individuum und Kollektiv. Felix Heidenreich stellt
       > infrage, dass sich Nachhaltigkeit und Demokratie problemlos vereinen
       > lassen.
       
   IMG Bild: Absturz oder weiche Landung – vor dieser Alternative steht wohl die Weltgesellschaft
       
       Berlin taz | Nachhaltigkeit begegnet einem mittlerweile überall: ob in der
       Werbung, der Rede einer Politikerin oder den Börsennachrichten. Welchen
       Einfluss aber die vielbeschworene Nachhaltigkeit und deren politische
       Umsetzung auf die Demokratie hat – das wird weit seltener thematisiert.
       Wenn, dann wird zumeist behauptet, dass der Umbau unserer Gesellschaften im
       Sinne der Nachhaltigkeit keinen Einfluss auf die Demokratie und deren
       Prozesse, Einrichtungen und Normen habe.
       
       [1][Felix Heidenreich] stellt mit seinem Buch diese Vorstellung infrage und
       argumentiert dahingegen, dass sich Demokratie und Nachhaltigkeit sowohl in
       ihrer Form als auch ihrem Inhalt wechselseitig beeinflussen. Eine
       Demokratie, welche sich nach Prinzipien des Liberalismus organisiert, ist
       jedoch – so Heidenreichs provokative These – nicht in der Lage,
       Nachhaltigkeit zu organisieren. Nur ein Republikanismus der Nachhaltigkeit
       ist ihm zufolge fähig, die große Transformation zu realisieren.
       
       Diese weitreichende Behauptung, die in der Praxis tiefgreifende
       Veränderungen nicht nur der demokratischen Institutionen und Abläufe,
       sondern auch der Subjekte selbst nach sich ziehen müsste, entwickelt
       Heidenreich auf weitgehend schlüssige Weise.
       
       Dem naheliegenden Einwand, eine solche Position würde die
       [2][Errungenschaften des Liberalismus] über Bord werfen, hält er entgegen,
       dass sein Republikanismus der Nachhaltigkeit zwar postliberal, aber noch
       nicht antiliberal sei: Denn das Ideal der Freiheit wird nicht
       verabschiedet, obgleich nichtnachhaltige Formen der Selbstverwirklichung
       eingeschränkt werden sollen.
       
       ## Ein anderer Freiheitsbegriff
       
       Allerdings scheint Heidenreich hier bereits einen anderen, eben
       nachhaltigen Begriff der Freiheit anzulegen, wenn er behauptet, dass sein
       angestrebter Republikanismus der Nachhaltigkeit immer noch freiheitlich
       sei. Eine solche nachhaltige Freiheit müsste jedoch erst entwickelt und
       verteidigt werden.
       
       Der kurze Exkurs dazu im Buch reicht jedoch nicht aus, um dieses Desiderat
       ausreichend zu erfüllen. Dass die BürgerInnen [3][im Namen ihrer Freiheit]
       ein Interesse an der Verwirklichung von Nachhaltigkeit haben – in deren
       Folge zweifelsohne auch einige ihrer vorigen Freiheiten begrenzt werden
       würden –, diese stärkere Pointe fehlt bei Heidenreich leider.
       
       Wie aber landen wir im Republikanismus der Nachhaltigkeit? Der Philosoph
       und Politikwissenschaftler entwirft zwei Szenarien: Wäre die
       Weltgesellschaft ein Flugzeug, das von endlichen Ressourcen in der Luft
       gehalten wird, dann könnte es entweder zum „Absturz“ oder aber zu einer
       „weichen Landung“ kommen. Das erste Szenario würde einen Kollaps
       staatlicher Strukturen, hervorgerufen durch verschlimmerte und zahlreiche
       gewordene ökologische Verheerungen, bedeuten – die Ressourcen und damit der
       Antrieb reißen also ab, die Weltgesellschaft stürzt ins Bodenlose.
       
       Das Buch stellt einen Versuch dar, das zweite Szenario wahrscheinlicher und
       uns somit bereit zu machen für eine weiche Landung dank gelungener und
       schrittweise erfolgter Transformation hin zu einer
       Nachhaltigkeitsgesellschaft.
       
       ## Zukünftige Generationen
       
       Von den beiden titelgebenden Schlüsselbegriffen des Werkes setzt sich
       Heidenreich zwar intensiv mit demjenigen der Demokratie, jedoch kaum mit
       dem der Nachhaltigkeit auseinander. So bettet der Autor seine Überlegungen
       zur Umsetzung der notwendigen Transformation ein in die anhaltende
       demokratietheoretische Debatte darüber, ob der Liberalismus oder nicht doch
       eher der Republikanismus in der Lage ist, die notwendigen Werkzeuge zur
       Bearbeitung der gegenwärtigen politischen Herausforderungen zu liefern.
       
       Dagegen erscheint die Behandlung des zweiten zentralen Begriffes der
       Monografie, der Nachhaltigkeit, nachlässig: Lediglich in einer Fußnote wird
       auf die klassische Definition des Brundtland-Berichts (1987) hingewiesen,
       die übernommen wird.
       
       Es geht Heidenreich also um Nachhaltigkeit im Sinne nachhaltiger
       Entwicklung. Den Bedürfnissen der heutigen Generation soll entsprochen
       werden, ohne dadurch die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu
       gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu
       wählen. Die vielfältige und durchaus berechtigte Kritik an einem solchen
       eher schwachen Verständnis von Nachhaltigkeit zu berücksichtigen hätte
       Heidenreichs Position gut getan.
       
       Dennoch ist insbesondere Heidenreichs These, dass Nachhaltigkeit für die
       Lebenswelten der BürgerInnen bedeutsam ist, innovativ und eine Lektüre
       trotz der oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem Nachhaltigkeitsbegriff
       lohnend.
       
       ## Möglichkeitshorizonte
       
       Überzeugend weist er nach, wie Ensembles aus technisch-materiellen,
       mentalen sowie sozial-kulturellen Infrastrukturen die Möglichkeitshorizonte
       von Menschen prägen und dadurch Einfluss auf deren Handlungen nehmen.
       
       Somit gelangen die „Entscheidungsarchitekturen“, welche uns im Alltag
       umgeben, in den Blick. Dementsprechend kann es nicht in der Verantwortung
       der Individuen allein liegen, nachhaltige Entscheidungen zu treffen:
       „Nachhaltigkeit lässt sich nicht privatisieren und nicht moralisieren.“
       
       Bloße Moralappelle an die BürgerInnen, die Bahn statt das Flugzeug zu
       nehmen oder nur noch Bioprodukte in den Einkaufswagen zu legen, greifen
       also zu kurz. Vielmehr kommt es darauf an, Anreizsysteme und ihren Einfluss
       auf die Gewohnheiten und Konsumstandards der BürgerInnen durch kollektiv
       bindende Vorgaben zu strukturieren.
       
       Mit anderen Worten: Wir sitzen alle im selben Flugzeug. Es kommt darauf an,
       die Landezone gemeinsam zu gestalten – denn einen Absturz kann eigentlich
       niemand wollen.
       
       8 Oct 2023
       
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