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       # taz.de -- Buch „Convivial Ground“: Arbeiten, bauen, wohnen und leben
       
       > Friede den Hütten – das will das Baukollektiv Constructlab in seinem
       > aktuellen Buch „Convivial Ground“ propagieren. Doch was ist mit den
       > Palästen?
       
   IMG Bild: Arbeit an „ Hotel Egon“, einem Projekt von Constructlab während der IBA Thüringen, 2019
       
       Ein Recht auf Stadt will sich die Berliner Initiative „Urbane Praxis“ mit
       den Mitteln der Künste, der Gestaltung, Planung und Aktion erstreiten. Das
       in Berlin ansässige Contructlab ist Teil dieser Initiative. Sein
       „transnationales Netzwerk“ schlägt seit über zwanzig Jahren vom
       Mittelmeerraum über mitteldeutsche Provinzstädtchen bis zu den
       Architekturbiennalen in Chicago [1][oder gerade in Venedig] sein Lager auf.
       
       Bevor der Deutsche Pavillon dort bis Ende November zum aktiven
       Materialdepot erklärt wurde, organisierte Constructlab im Auftrag des
       deutschen Kurator:innenteams schon einmal eine „Hausversammlung“. Auf
       der Giudecca stellte es einige Wägen auf. Die dienten als Küche,
       Siebdruckstation oder Werkstatt. Übergeordnetes Ziel war die
       Nachbarschaftspflege und die Instandhaltung in einem von Besetzer:innen
       geprägten Viertel.
       
       „Wir beobachten uns gegenseitig beim Improvisieren. Diese Stadt werden wir
       gemeinsam gebaut haben“, heißt es im nun erschienenen Handbuch „Convivial
       Ground“ von Constructlab. Es kommt im robusten Umschlag mit kurzen
       Projektbeschreibungen, anekdotischen Erinnerungen, Selbst-Interviews und
       ausführlichen Bildstrecken.
       
       Der Titel verweist auf das 2013 von französischen Intellektuellen verfasste
       „Convivialist Manifesto“. Dies suchte zwischen Wachstumskritik und
       Gabentausch ein gutes Zusammen-Leben und griff auf das Konzept der
       Konvivialität zurück, wie der Philosoph Ivan Illich es in den 1970ern
       erarbeitete. Dessen Buch „Tools for Conviviality“ liest sich heute als
       Aufruf gegen einen radikalen Neoliberalismus.
       
       ## Soziale Kompetenz ist gefragt
       
       „To Gather“, das „Zusammenkommen“ als politischer Akt, ist immer auch
       Beziehungsarbeit. Zusammen arbeiten und bauen, leben und wohnen, gut Essen
       wie auch Spaß haben wird bei „Convivial Ground“ groß geschrieben.
       Stuhlkreis und Agora, runder Tisch oder Lagerfeuer tauchen auf den
       Farbfotos und Skizzen immer wieder auf. Easy- und Night-Jetter sind auf
       Grand Tour mit zusammen gezimmerten Kanus, Euro-Englisch erklingt zum
       Orchester aus Stichsägen und Akkuschraubern, kein Regenschauer trübt die
       Bilder: Die Fotostrecken zeigen einen Lkw-Anhänger als Werkzeugwagen mit
       Küche und Bettlandschaft oder erfindungsreich unter Schuhe geschnallte
       Stempel. Der Pizzaofen wird mit Restholz befeuert und die ausgemusterten
       Schultafeln zu Fassaden umgewandelt.
       
       Schlägt Constructlab sein Lager auf, sind Vielfachbegabungen,
       Hartnäckigkeit und soziale Kompetenz gefragt – das Schweizer Taschenmesser
       der Urbanen Praxis. Flache Hierarchien werden zwar eingefordert, doch gibt
       es Tutoren für Spezialaufgaben – wie das Herausgeber:innenteam des
       Buchs: die französische Architektin Joanne Pouzenc, der Berliner Gestalter
       Alex Römer sowie der niederländische Grafikdesigner Peter Zuiderwijk.
       
       Geld als Treibstoff spiele nur am Rand eine Rolle, heißt es. Mit der
       Finanzierung gastgebender Institutionen müsse gehaushaltet werden. Dann
       wird eine Stützkonstruktion gebaut, in der man schon einmal nächtigen kann.
       Schon bald sei man Teil der lokalen Bevölkerung. Doch dann ist das Projekt
       üblicherweise wieder vorbei und alle gehen ihrer Wege.
       
       ## Zuviel gute Laune nervt
       
       Die Präsenz des Netzwerks aus Designer-Builders, Kulturarbeiter:innen
       und Neuankommenden ist auf Zeit. Constructlab hinterlässt so kaum Spuren,
       im Guten wie im Schlechten. Und was passiert danach?
       
       Ein im Buch groß gesetztes Zitat des Architekten Eyal Weizman (man kennt
       ihn auch als Gründer von [2][Forensic Architecture]) beschreibt
       Partizipation als „eine Reihe von Konflikten, Verhandlungen, Manövern und
       Betrügereien zwischen und innerhalb einer Vielzahl von Akteuren“, doch
       beherzt wird diese nüchterne Analyse kaum. Irgendwann nervt die ungebrochen
       gute Laune auf den Bildern und in den Texten.
       
       ## Was praktisch getan werden kann
       
       Der Stichwortgeber Ivan Illich war in engem Kontakt mit John F. C. Turner,
       dem Pionier des informellen Selbsthilfe-Bauens in Armutsquartieren von
       Peru. Und wie das im Buch diskutierte „upcycling“ zur ästhetischen und
       sozialen Reife getrieben werden kann, zeigt das 1993 gegründete Rural
       Studio der US-amerikanischen Auburn University überzeugend. Dort lernen
       Architekturstudierende nämlich, gute Gebäude für arme Gemeinden im
       ländlichen „Black Belt“ Alabamas nahezu kostenneutral zur Verfügung zu
       stellen.
       
       „Aber die Holzschiffe / waren nur ein Hippie-Traum“, sang Neil Young 1986
       in seinem dystopischen „Hippie-Dream“-Song. Die geselligen Baustellen der
       Urbanen Praxis konstruieren als wunderbares Projekt des Miteinanderseins
       den Frieden der Hütten. Doch was ist mit dem Krieg gegen die Paläste, den
       der Schriftsteller Georg Büchner zudem einforderte?
       
       11 Oct 2023
       
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