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       # taz.de -- Migration nach Europa: Kommunen trotzen scharfen Tönen
       
       > Rund ein Dutzend Bürgermeister hat sich in Brüssel über eine solidarische
       > Migrationspolitik ausgetauscht. Sie fordern direkte EU-Mittel für
       > Kommunen.
       
   IMG Bild: Protest in Brüssel im September, um auf die Lage papierloser Migrant:innen aufmerksam zu machen
       
       Brüssel taz | Während nationale Regierungen immer schärfere Töne gegen
       Flüchtlinge und Migrant:innen anschlagen, halten Kommunen vielfach
       dagegen. Und wollen das nun auch vor den EU-Wahlen im Juni tun. Rund ein
       Dutzend solcher Kommunen versammelte sich am Dienstag und Mittwoch in
       Brüssel. Sie fragen: Wie kann die EU Städten helfen, die sagen: ‚Wir haben
       Platz‘? Und wie können diese Städte ihrerseits Einfluss auf die
       Migrationspolitik nehmen?
       
       Bern startet die „City Card“, mit der papierlose Migrant:innen ihre
       Identität digital nachweisen können. In Danzig berät ein
       Migrant:innenrat die Bürgermeisterin. Utrecht betreibt offene „Bett,
       Bad und Brot“-Unterkünfte statt geschlossener Lager. Und Rottenburg am
       Neckar ermutigt die Bürger:innen, Patenschaftskreise für Ankommende
       aufzubauen. 718 europäische Kommunen, die sich so oder anders „aktiv für
       eine solidarische Migrationspolitik einsetzen“ zählt die „Moving Cities
       Map“, eine von der Robert Bosch Stiftung finanzierte Plattform.
       
       Denn gleichsam parallel zum [1][Aufstieg der Rechtspopulisten] haben sich
       überall in Europa Kommunen zu dem Thema zusammengeschlossen. 14 solcher
       Netzwerke gibt es – von den österreichischen „Bürgermeistern mit Herz“ über
       die „International Alliance of Safe Harbours“ bis zu den „Welcoming
       Territories“ in Frankreich.
       
       Sie weisen darauf hin, dass es fast immer die Kommunen sind, die sich um
       die Ankommenden kümmern müssen: Um Erstversorgung, um Schlaf-, Schul und
       Kindergartenplätze bis zur Moderation möglicher Konflikte mit
       Anwohner:innen. Doch die politischen Kompetenzen für die Bedingungen, unter
       denen die Migration stattfindet, liegen woanders.
       
       ## Zagreb als Stadt der Vielfalt und Integration
       
       Kroatiens Hauptstadt Zagreb zum Beispiel wird seit 2021 von der
       links-grünen Partei „Možemo!“ (Wir können!) regiert. An der Grenze geht die
       kroatische Nationalregierung voller Gewalt gegen Flüchtende vor, setzt kaum
       verhohlen [2][auf massenhafte Pushbacks]. Die Hauptstadt hingegen hat sich
       den Leitspruch „Stadt der Vielfalt und Integration aller Bürger“ gegeben.
       „Wir wollen bei der lokale Integrationspolitik weiter gehen als die
       nationale Regierung,“ sagt Gordan Bosanac, der einst das Zagreber Center
       for Peace Studies leitete und seit dem „Možemo!“-Überraschungssieg für die
       Flüchtlingsaufnahme zuständig ist.
       
       Die nationale Regierung unterstütze bei der Hilfe für die Ukrainer. Aber es
       kämen eben auch Tausender anderer Menschen über die Balkanroute in Zagreb
       an. „Es war uns klar, dass wir da etwas tun müssen,“ sagt Bosanac. „Als wir
       eine Notunterkunft bauen wollten, hieß es, das werde sofort viel mehr
       Menschen anziehen.“ Die Stadt ließ sich davon nicht abhalten und errichtete
       die Unterkunft auf eigene Rechnung. „Heute haben wir den Beweis, dass dies
       nicht der Fall ist“, sagt Bosanac. Die Notunterkunft habe sich nicht als
       „Pull-Faktor“ erwiesen.
       
       ## Nationalstaaten für Integration zuständig
       
       Doch der Fall zeigt das Grundproblem der liberalen Stadtverwaltungen: Sie
       haben nur eine sehr begrenzte Zuständigkeit. Für die Aufnahme – die Zeit
       zwischen Ankunft und Ende des Asylverfahrens – gibt es EU-weit feste
       Regeln, an die die Staaten sich zu halten haben und für die Geld aus
       Brüssel fließt. Für die sich anschließende Integration gibt es keine
       solchen Regeln. Integration fällt in die Zuständigkeit der Nationalstaaten.
       Und die machen sich bisweilen einen schlanken Fuß – oder setzen auf
       demonstrative Härte.
       
       „Migration gilt als zentrales Thema nationaler Souveränität“, sagt Federico
       Alagna, der an der Scuola Normale Superiore in Florenz zu kommunaler
       Migrationspolitik forscht.
       
       Auf kaum einem Gebiet versuchen nationale Regierungen gerade stärker ihre
       Linie durchzusetzen, etwa bei dem Ausschluss von Leistungen für
       Ausreisepflichtige. Doch häufig bleiben diese dann eben doch sehr lange im
       Land. Die Städte sind dann gezwungen mit der Anwesenheit dieser Menschen
       umzugehen. Wie sollen die Kommunen den Regierungen dafür Spielräume
       abtrotzen? Umso schwieriger ist dies, weil gerade große Städte oft eher
       links oder liberal regiert werden und deshalb in Opposition zur
       Zentralregierung stehen.
       
       ## Liberale Städte, konservative Zentralregierungen
       
       „Zu hoffen, dass die Leute weggehen ist keine Integrationspolitik“, sagte
       die Vertreterin einer deutschen Großstadt auf der Brüsseler Konferenz diese
       Woche in einem nicht-öffentlichen Panel. „Aber viele werden bleiben, auch
       wenn die Kriege vorüber sind. Sie gehen zur Schule, sie finden Jobs. Das
       müssen wir den Leuten erklären.“ Denn um die künftigen Bürger müsse man
       sich bereits heute kümmern. „Sonst gibt es mehr Probleme in der Zukunft.“
       
       Die Kommunen müssen dabei auch mit der Schwierigkeit umgehen, dass den
       nationalen Regierung ihre progressiven Projekte teils gar nicht so recht
       sind.
       
       In Deutschland etwa verklagte der Berliner Senat 2020 den damaligen
       [3][Innenminister Horst Seehofer (CSU),] weil der sich weigerte, Berlin ein
       eigenständiges Flüchtlings-Aufnahmeprogramm zu gestatten. Eine unter
       anderem von Potsdam initiierte Verhandlungsgruppe mit dem Innenministerium
       sollte dafür einen neuen Rechtsrahmen schaffen – ohne Erfolg.
       
       Palermo ging 2018 offen auf Konfrontationskurs mit dem rechtsextremen
       damaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini. Als der Booten der
       eigenen Küstenwache verbot, mit geretteten Flüchtlingen in italienische
       Häfen einzufahren, lud Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando die privaten
       Rettungsschiffe demonstrativ ein, im Hafen der Stadt anzulegen.
       
       Doch nicht nur bei der Frage, wer überhaupt ins Land darf, sondern auch bei
       jener, wer für diese dann bezahlt, gibt es Konflikte.
       
       ## Transitflüchtlinge und Arbeitsmigant:innen
       
       In Zagreb etwa leben neben den Transitflüchtlingen heute auch immer mehr
       Arbeitsmigrant:innen. Kroatien leidet unter enormem Bevölkerungsschwund.
       Vor allem im Bau- und Tourismussektor fehlen massenhaft Arbeitskräfte. Das
       Land hat Rekrutierungsbüros in Nepal, auf den Phillipinen und Bangladesch
       eröffnet. „Die Menschen dort zahlen Tausende von Euro Anwerbegebühren, um
       zu uns zu kommen und für 600 bis 1.000 Euro im Monat zu arbeiten“, sagt
       Gordan Bosanac von der Stadtverwaltung. Allein in Zagreb lebten 24.000
       solcher ausländische Arbeitskräfte, in ganz Kroatien sind es
       Hunderttausende. Sie dürfen ein Jahr lang bleiben, zunächst nur bei einem
       Arbeitgeber.
       
       „Unsere Anlaufstelle ist ein ‚One-Stop-Shop‘ für alle: Asylsuchende,
       Anerkannte und Nicht-EU-Ausländer“, sagt Bosanac. Doch die Finanzierung sei
       „sehr spezifisch“. Gelder des UNHCR zum Beispiel können nur für
       Asylbewerber ausgegeben werden. Und auch bei den Mitteln der
       Nationalregierung sei die Verwendung beschränkt. „Das ist zu eng. Wir
       müssen unsere Angebote für alle öffnen können.“ Das diene auch der
       Akzeptanz. „Bei uns ist es eine Regel, dass alles, was Flüchtlingen zur
       Verfügung gestellt wird, auch anderen Bürger offenstehen muss.“
       
       Das halten auch viele andere Städte so. Wenn eine neue Kita gebaut wird,
       die aber allen offen steht, ist möglicher Unmut über den Flüchtlingszuzug
       leichter zu dämpfen. „Nicht drüber reden, dass das alles Geld kosten, nützt
       nichts“, meint ein Gemeindevertreter aus den Niederlanden. „Dann übernehmen
       die Rechten das Thema komplett. Man muss das kommunizieren, aber den Ton
       dabei selber setzen.“ Doch wer im eigenen Ton über die neue gemischte Kita
       reden will, braucht erst einmal mehr Autonomie, auch beim Geld.
       
       ## Direkte EU-Mittel für die Kommunen
       
       Janne Grote, Vertreter des Berliner Senats in der „International Alliance
       of Safe Harbours“ fordert, dass Kommunen leichter direkt Mittel von der EU
       bekommen – ohne den Umweg über die Nationalregierung. „Die meisten Menschen
       ziehen in die Städte – und die erledigen die Arbeit bei der Aufnahme. Die
       Städte müssen deshalb viel stärker gehört werden,“ sagt Grote. In den
       laufenden Verhandlungen um die Reform des Gemeinsamen Europäischen
       Asylsystem sei das aber nicht der Fall.
       
       „Mehr Macht den Regionen, den Städten und den Menschen, die dort wohnen“ –
       auf diese Formel bringt es der italienische Forscher Alagna. Er sieht darin
       die Chance auf eine „Europäisierung von unten“.
       
       Der EU-Kommission ist das Problem der begrenzten kommunalen Spielräume im
       Migrationsbereich bewusst. Doch bis sich etwas ändert, wird es dauern. Der
       aktuelle Haushalt läuft bis 2027. Ab 2025 wird über den Haushalt ab 2028
       diskutiert. „Dann wird das Thema sicher auf dem Tisch landen“, sagt Anna
       Schmidt, die bei der Brüsseler Kommission für Migration- und Asylpolitk
       zuständig ist. Einstweilen „ermutige“ die Kommission die nationalen
       Regierungen, regionale und kommunale Stellen bei der Mittelverteilung
       einzubeziehen, sagte eine Kollegin Schmidts. Geschehe das, übernehme
       Brüssel bis zu 95 statt sonst nur 70 Prozent der Kosten bewilligter Projekt
       aus dem EU-Asylfonds AMIF.
       
       Die laufenden Verhandlungen zum neuen [4][EU-Asylsystem] sehen viele der
       Städte-Verteter:innen indes kritisch. Der grüne EU-Abgeordnete Erik
       Marquardt fürchtet, dass der Pakt den Kommunen Geld für dringend nötige
       lokale Integration entziehen werde. Denn der sieht vor, dass Staaten sich
       weigern können, Flüchtlinge aufzunehmen, die ihnen über einen
       EU-Verteilschlüssel zugewiesen werden. Stattdessen können sie ersatzweise
       20.000 Euro pro verweigerter Aufnahme zahlen. „Das Geld ist dann aber nicht
       zwingend für die Versorgung der Menschen im anderen EU-Staat vorgesehen“,
       sagt Marquardt. „Den Staaten soll freigestellt sein, das Geld für beliebige
       Grenzschutzprojekte auszugeben, die irgendwie die Flüchtlingszahlen
       Richtung Europa drücken sollen. Also zum Beispiel für Grenzanlangen im
       Sudan. Und natürlich fehlt diese Geld dann hier vor Ort in den Kommunen.“
       
       11 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] /EU-Asylrecht/!5961273
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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