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       # taz.de -- Dekolonisierende Ausstellung: Bitteres Erinnerungsprojekt
       
       > Die US-amerikanische Künstlerin Rajkamal Kahlon stellt in Hamburg aus.
       > Sie deckt Kontinuitäten kolonialer Gewalt auf.
       
   IMG Bild: Fotos vermessener Iraker über Autopsieberichten: Kahlons „Did You Kiss the Dead Body“ von 2022
       
       Hamburg taz | Im Vergleich zum US-Bombardement Afghanistans 2002 war die
       koloniale Vermessung dieser Menschen fast ein humanitärer Akt.“ Es klingt
       bitter, was Rajkamal Kahlon, in einer Schau an der Hamburger Hochschule für
       bildende Künste (HfbK) präsent, über ihr Video „People of Afghanistan“
       sagt.
       
       Die Aufnahmen sind authentisch und zeigen aus Pilotenperspektive das
       [1][Bombardement] eines afghanischen Dorfs. Das zwingt einen in die
       Täterperspektive: Man guckt mit durch den Sucher. Die weißen Punkte da
       unten sind rennende Menschen. Dann mehrere Explosionen. Jetzt rennt niemand
       mehr.
       
       Kühl und geschäftsmäßig debattieren auf der begleitenden Tonspur Piloten
       und Kommandozentrale über geeignete Ziele, melden die Treffer. Man kann es
       kaum ertragen. Auch die indischstämmige US-amerikanische Künstlerin nicht.
       
       „Mit dieser männlichen amerikanischen ‚Master of the Universe‘-Stimme bin
       ich aufgewachsen, sie ist Teil meiner Identität“, sagt sie. „Für mich ist
       das ein gespaltener Wiedererkennungseffekt, denn die Männer auf den Fotos
       könnten meine Verwandten sein“, sagt die inzwischen in Berlin lebende
       Künstlerin und Malerei-Professorin an der HfbK. „Angesichts dieses Videos
       fühle ich Trauer, Scham und Schuld.“
       
       ## Reduktion von Menschen auf Objekte
       
       Jene Männer auf den Fotos – das sind von Kahlon über das Video gelegte
       Aufnahmen, die der russische Anthropologe G. F. Debets in den 1960ern in
       Afghanistan machte, als er Menschen im Zuge eines rassistischen
       „Forschungsprojekts“ vermaß. Vielleicht sind es Verwandte der 2002
       Bombardierten, vielleicht nicht. Wichtig ist die Kontinuität [2][kolonialer
       Gewalt,] die Reduktion von Menschen auf Objekte. Dagegen arbeitet
       [3][Kahlon] seit Langem an – als politische Aktivistin und Künstlerin.
       
       Wichtigstes Vehikel dabei ist das Malen, genauer: das Übermalen: In
       Archiven und alten Büchern sucht und findet sie Abbildungen einst
       Kolonisierter – sei es im [4][Amsterdamer Tropenmuseum,] im Wiener
       Weltmuseum oder im deutschen Buch „Die Völker der Erde“ von 1902. Überall
       dort finden sich unbekleidete, haarlose, zum Objekt degradierte Menschen,
       die vermessen, typisiert und als zivilisatorisch unterlegen klassifiziert
       werden. Und immer wieder hat Kahlon solche Fotos vergrößert und übermalt,
       den Frauen modische Kleidung und schicke Frisuren, den Männern anständige
       Anzüge gegeben.
       
       Im Resultat ist das Ursprungsbild nicht verschwunden, aber verwandelt,
       fürsorglich ergänzt, die Person vom Objekt ins Individuum transformiert.
       Dabei bleibt der Vorgang, die Brechung immer sichtbar. Denn tatsächlich
       wirkt das Draufgemalte zunächst deplatziert, und genau dieses Erstaunen,
       auch die Komik darin, ist gewollt: Warum finden wir es bizarr, gar lustig,
       dass diese Menschen plötzlich eine Prada-Tasche tragen?
       
       „Ich will einen Dialog darüber initiieren, wie uns diese Bilder und die
       ihnen innewohnende Gewalt bis heute prägen“, sagst Kahlon. Einige ihrer
       Figuren stehen gar als lebensgroße Cut-outs im „Schaufenster“ der HfbK,
       sollen zum Näherkommen locken, bevor es an die harten Themen geht.
       „Ästhetik und Gewalt existieren parallel. Ich finde problematisch, dass wir
       das oft trennen“, sagt Kahlon.
       
       Außerdem kann Schönheit helfen, Be- und Verarbeitung erträglich machen:
       Zehn Jahre lang ist Rajkamal Kahlon um die medizinisch kalten
       Autopsieberichte des [5][Folterprogramms] der Bush-Ära in Afghanistan und
       Irak herumgeschlichen. Hat die Dokumente schließlich marmoriert – sowohl
       eine Anspielung auf vergrößerte Zellstrukturen als auch eine
       Ästhetisierung.
       
       Dann hat sie anatomische Zeichnungen und Fotos darübergelegt, die der
       US-Anthropologe Henry Field in den 1930ern von im Irak vermessenen Menschen
       gemacht hatte. „Das war bald, nachdem man im Irak Öl gefunden hatte“, sagt
       Kahlon. Sie hat die namenlosen Fotos über die anonymen Autopsieberichte
       gelegt und „Onkel“ oder „Bruder“ daruntergeschrieben.
       
       19 Oct 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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