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       # taz.de -- Christliches Jugendtreffen in Rom: „Kritik wird eher stumm gemacht“
       
       > Neue Geistliche Gemeinschaften feiern ein Comeback, trotz eklatanter
       > Missbrauchsfälle. Die Theologin Hildegund Keul warnt vor „Freudenzwang“.
       
   IMG Bild: Spiritualität ist eine gefährliche Größe, sagt Hildegund Keul. Hier ein Taizé-Treffen in Rom 2012
       
       taz: Frau Keul, am [1][katholischen Weltjugendtag], der kürzlich in
       Lissabon stattfand, waren die sogenannten Neuen Geistlichen Gemeinschaften
       (NGG) sehr präsent, ab Freitag treffen sich viele dieser Gruppen zu einer
       [2][„Versammlung des Volkes Gottes“] mit Papst Franziskus in Rom. Erleben
       die NGG gerade eine Renaissance? 
       
       Hildegund Keul: Die charismatische Bewegung ist zwar nicht mehr so stark
       wie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Damals hat sie sich mit großem
       Enthusiasmus auf die Fahnen geschrieben: Wir retten die Kirche. Der
       Weltjugendtag war schon immer geprägt von NGG, auch wegen Papst Johannes
       Paul II, der sie legitimierte und sehr förderte. Meine Befürchtung ist,
       dass einige deutsche Bistümer neu auf sie setzen, obwohl die NGG in
       Frankreich wegen Missbrauch und Vertuschungsgewalt furchtbar gescheitert
       sind. Man setzt auf die gescheiterten Rezepte und will die alte
       Begeisterung neu wecken ohne hinzugucken: Was ist das Problem an dieser
       Begeisterung?
       
       Was ist denn das Problem? 
       
       Es gibt eine wissenschaftliche Kriteriologie dafür, wann eine Gemeinschaft
       quasi gefährdet ist für spirituellen Missbrauch und anschließend unter
       Umständen auch für sexuellen Missbrauch. Ich fand das anfangs überraschend,
       aber ein wichtigeres Kriterium ist: Die Gemeinschaft strahlt Freude aus.
       Dieser Überschwang und Enthusiasmus: Wir schaffen das jetzt, wir wuppen
       das, wir kriegen das hin. Ich nenne das „Freudenzwang“. Also man muss sich
       immer freuen, die Menschen in der geistlichen Gemeinschaft sind in der
       Eigenlogik schlichtweg erwählt und das soll man denen auch ansehen.
       
       Wozu sind sie erwählt? 
       
       Problematisch ist das Elitäre: Wir sind besser als die Anderen. Ich nenne
       das „spirituelles Othering“. Die Anderen werden dann zu „Weltmenschen“,
       während man sich selbst für die richtigen, radikalen, ernsthaften Christen
       hält. Das ist gefährlich. Nach außen entsteht eine Isolation und nach innen
       Konkurrenz. Wer richtig dazugehören will, muss immer mehr Opfer bringen, um
       dem Erwählungsglauben gerecht zu werden. Sehr viel arbeiten, sehr viel Geld
       spenden, sexuelle Übergriffe ertragen – Sex, Macht, Geld. Menschen werden
       extrem opferbereit, wenn es um ihre Erwählung geht. Den Kern des Problems
       sehe ich darin, dass die charismatische Bewegung überhaupt nicht sieht,
       dass Spiritualität selbst eine gefährliche Größe ist.
       
       Spiritualität soll eine gefährliche Größe sein? 
       
       Spiritualität kann auch ganz grandios sein. Spiritualität kann Menschen die
       Intensität von Leben erschließen. Sie kann Menschen wirklich helfen, mit
       ihren Verwundungen zu leben und Schicksalsschläge besser durchzustehen.
       Spiritualität kann aber auch sehr destruktiv sein. Und diese Gefahr, die
       muss man einfach kennen und anerkennen. Man muss sehen, dass es eine Gefahr
       ist, und mit der muss man rechnen. Und zwar auch die [3][Gefahr der eigenen
       Spiritualität, nicht nur die der anderen].
       
       Die „Versammlung des Volkes Gottes“ in Rom wird von der Taizé-Gemeinschaft
       organisiert. Einige würden sagen, Taizé gehört gar nicht zu den NGG im
       engeren Sinn … 
       
       Taizé ist keine klassische NGG, gehört aber zur charismatischen Bewegung.
       Da die jungen Menschen meist nicht vor Ort bleiben, sondern in ihre
       Gemeinden zurückgehen, haben sie ein etwas anderes Konzept. Sie
       praktizieren eine große Offenheit und leben ökumenisch orientiert. Ich
       persönlich finde auch einige Lieder von Taizé großartig. Trotzdem lauert
       auch hier die Gefahr, die spirituelle Begeisterung auslöst. Auch in Taizé
       gibt es Fälle sexueller Gewalt. Ein Gefahrenfeld sind neben der
       Schwesterngemeinschaft die Freiwilligen, die vor Ort mitarbeiten, die sich
       eine besondere Gottesnähe erhoffen und ihrem Leben einen neuen Sinn geben
       wollen. Die leuchtenden Augen sind auch ein Charakteristikum von Taizé.
       
       Aber haben Taizé und die NGG nicht Fortschritte gemacht, seitdem die Gewalt
       in den eigenen Reihen bekannt wurde? 
       
       Wenn ich das richtig sehe, dann sind die Präventionsmaßnahmen oft interne
       Schulungen mit problematischen Konzepten wie „gesunde Spiritualität“. Die
       meisten Gemeinschaften beschreiben auf ihren Webseiten nicht, dass ihre
       eigene Spiritualität unter Umständen eine Gefahr für Menschen sein kann.
       Und ich glaube, das ist der Erkenntnisfortschritt, den die eigentlich
       machen müssen. Und solange sie sich dem verweigern, bleibt es
       problematisch. Eine der Gemeinschaften schreibt auf ihrer Webseite: Das
       Reich Gottes ist bei uns gegenwärtig. Das ist doch irre, mit diesem
       Anspruch aufzutreten: Wer hier Kritik übt, ist von vornherein falsch – denn
       schließlich ist hier das Reich Gottes gegenwärtig.
       
       Wie wird die Zukunft der kirchlichen Jugendarbeit aussehen? 
       
       Ich hoffe, dass die Bistümer nicht einfach auf die charismatische Bewegung
       setzen und sagen: die sollen das jetzt mal richten. Das ist leider eine
       Tendenz. Kürzlich habe ich von Firmvorbereitungen gehört, bei denen nichts
       mehr läuft ohne die charismatische Bewegung. Die FOCUS-Missionare, die ich
       persönlich für hoch problematisch halte, greifen auf die Hochschulpastoral
       zu und sind bereits in Düsseldorf und Passau verortet. In Frankreich
       spricht man vom „Sturz der Sterne“, weil so viele Gründer von NGG als
       Missbrauchstäter und Vertuscher enttarnt wurden. [4][In Frankreich ist die
       Aufarbeitung 10 Jahre weiter] als in Deutschland. Wenn man diesen „Sturz
       der Sterne“ ernstnehmen würde, könnte man sich in Deutschland viel
       ersparen.
       
       29 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://katholisch.de/artikel/46988-nach-weltjugendtag-braucht-es-konzepte-gegen-geistlichen-missbrauch
   DIR [2] https://together2023.net/de/home-german/
   DIR [3] /Psychologe-ueber-Missbrauch-in-der-Kirche/!5934472
   DIR [4] /Katholische-Kirche-Frankreich/!5806258
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Hunglinger
       
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