URI: 
       # taz.de -- Diana Ross in Amsterdam: Meine Welt ist leer ohne dich
       
       > Diana Ross hatte weder die ganz große Stimme noch den ganz großen
       > Absturz. Mit 79 hat sie nun ein Konzert gegeben. Auch die Queen war Fan.
       
   IMG Bild: Sängerin Diana Ross hat immer noch Fans, nicht nur unter älteren Herrschaften
       
       Amsterdam taz | Erstaunlich, diese jungen Leute im Saal, nicht nur
       vereinzelt unter 14.000 Menschen im Ziggo Dome, neben dem Ajax-Stadion
       zweites Herzstück eines Vergnügungsviertels in Amsterdams, einst auf der
       grünen Wiese. Nicht nur wir, Boomer durch und durch, Männer und Frauen, die
       die Anfänge dieser Frau allenfalls als Kleinkinder erlebt haben, wollten
       sie sehen, auch unsere Enkel.
       
       Dabei kennt sie doch nicht jeder, kleine empirisch gewiss fadenscheinige
       Umfrage unter Kollegen und Kolleginnen: Diana, wer? Dann kommt sie auf die
       Bühne, schlicht im Hintergrund in anthrazitfarbener Eleganz gehalten[1][,
       Diana Ross, der stärkste nur denkbare Jubel zur Begrüßung.]
       
       Singt „I’m Coming Out“, verhaltener Auftakt, warmherzig, sie im
       gelbgüldenen, hochgeschlossenen Puschelfummel, in der Hand einen riesigen
       Fächer, farblich passend ebenfalls gelb, sich hin und wieder zufächelnd,
       damit ihre beeindruckend dunkle, ausgesprochen löwige Mähne, die sie
       entzückend anspruchsvoll immer wieder frei von Demut zurückwirft: Ja, das
       ist die Diana Ross, die Königin des Pop seit den mittleren Sechzigern, die
       wir uns wünschen.
       
       Sie nennt ihr Konzert wie ihre Tour überhaupt: „A Legacy Evening“, ein
       Abend mit Vermächtnis, recht verstanden, und sie darf das auch, denn Ms
       Ross ist 79 und das sieht man ihr, wenigstens von Weitem wie auf den Big
       Screens nicht an. Das zu schreiben ist kein Aging, kein Hinweis auf
       naturwidrige Hilfsumstände in Sachen „Äußerlich in Form bleiben“, sondern
       purer Neid: Sie sieht nicht nur absolut erfrischend aus, sie kichert,
       gestikuliert unältlich, sie muss, wirklich sie muss Gymnastik treiben,
       täglich, mindestens, sonst ist ihre Präsenz ja kaum erklärbar.
       
       Und sie zelebriert ihre Erbschaftserklärung: etwa auch, indem sie im
       Hintergrund fein geschnittene Filmchen abspielen lässt, Zeugnisse ihrer
       Herkunft, ihrer Karriere, Verweise zu Kooperationen mit anderen, eben auch
       mit jungen Sangeskolleginnen wie sie, die in den frühen sechziger Jahren
       mit Look und Talent versuchten, einen Fuß in die Tür zum Erfolg zu
       bekommen. Und zwar nicht als Fabrikarbeiterin, wie ihr Vater, nicht als
       Lehrerin, wie ihre Mutter, sondern, ehrgeizig und aufstiegshungrig wie alle
       in ihrer Familie, möglichst ganz nach oben.
       
       ## Keine Kunstproduktion, sondern Chartware
       
       So intoniert sie, begleitet von ihrer smarten Band, stimmlich unterstützt
       von vier Sängerinnen*, sich durch den Reigen ihrer Hits, und es waren
       wirklich welche: „My World Is Empty Without You“, „Baby Love“, „Come See
       About Me“, natürlich „You Can’t Hurry Love“, „Stop! In the Name of Love“,
       „Love Child“, am Ende des Abends, knapp zwei Stunden flott weiter, mit
       triumphalen, armfreien Gesten „Ain’t No Mountain High Enough“.
       
       So weit zum allerbekanntesten „Supremes“-Œuvre, gewerkelt in den Studios
       von Motown, ausdrücklich, so seine Gründer, keine Kunstproduktion, sondern
       Chartware, umsatzmachend hoffentlich. Und Ms Ross war stimmlich unter ihren
       Kolleginnen der Girl Group keineswegs die beeindruckendste, aber diese
       Label hatten ohnehin in ihrer Black Community Frauen wie Aretha Franklin
       oder Dionne Warwick. Ross hingegen hatte Appeal, sie war schlank, sie
       hatte, wie sie beiläufig und selbstironisch auf der Bühne berichtet, unter
       ihren Geschwistern den Ruf, so etwas wie die Ehrgeizigste von allen zu
       sein, raus aus der Sozialwohnungssiedlung, kompromisslos durchaus
       Konkurrentinnen ausstechend.
       
       Im zweiten Teil, ohne Pause, kam sie in gleißend kermitgrünen
       Grobpailletten, eine rauschendes Textil auch dies, der Fächer nun in
       frischen Moosfarben – jetzt, nicht ermüdet, ihre Schritte als
       „Supreme“-ferne Solistin, Jazz und Blues und Disco, „Upside Down“, „Chain
       Reaction“, „Endless Love“ (ohne Lionel Ritchie, nur mit sich und dem Chor),
       „Ease on Down the Road“ (ohne Michael Jackson, klar), „Don’t Explain“, eine
       Verbeugung vor ihrer Erblasserin Billie Holiday, das schnulzige „Touch Me
       in the Morning“ und „Theme from Mahagony“: Akkurat, in jeder Hinsicht
       freundlich, immer wieder lächelnd, als sei es ein Leichtes, zwar nicht
       Aerobic auf der Bühne darzubieten, aber doch stete körperliche Moves: Ms
       Ross hat ein Vermächtnis zu überbringen – und das definiert sich anders als
       [2][etwa bei der vor kurzem verstorbenen Tina Turner,] bei deren Karriere
       bei ihren Fans immer das Leiden an Ike Turner mitgedacht wurde, der
       Aufstieg auf dem Nichts, die Unwahrscheinlichkeit der höchsten Berge, die
       sie in ihrer Karriere im Pop besteigen würde.
       
       ## Ein paar Vergehen
       
       Diese Künstlerin hier in Amsterdam hat ihre Laufbahn mit eisernem Willen
       und bei gut gewählten Gelegenheiten auszubauen gewusst, auch ohne flagrante
       Abstürze. Ein paar Vergehen im Autoverkehr, unschöne Drogen plus Rehab,
       Promille um 2.0 vor den Augen der Polizei, einige Derbheiten am Flughafen
       Heathrow.
       
       Hier in der Halle, nun im topstylishen schwarzen und bodenlangen
       Abendkleid, ganz Las-Vegas-Air, wirkt sie glücklich wie ein Teenager auf
       der eigenen Konfirmation, die die Huldigungen des Publikums gelöst entgegen
       nimmt und winkt, immer wieder winkt, mit zwei Fingern die Augen fixiert und
       sie zu einer Person in den ersten Reihen richtet: Das ist eine, die ihre
       Jahre als Sammlung von Erfahrungen präsentiert, nicht als würde sie
       schwächeln und demnächst, über ihren Anwalt und natürlich ohne livehaftig
       dabei sein zu können, zur Verteilung ihrer Habseligkeiten lädt. Sie wollte
       ein Popstar werden, nicht nur der Schwarzen, sondern für alle.
       
       [3][Königin Elizabeth II.] soll ihre Musik geschätzt haben, kein Wunder,
       [4][dass Ms Ross] zum letzten Geburtstagskonzert Ihrer Majestät am Schloss
       Windsor auftrat, als allerletzter Akt. Mehr geht nicht? Fragen Sie mal Ms
       Ross! Gloria Gaynors Klassiker „I Will Survive“ zum Schluss, das
       Hallenlicht dimmt auf, doch nach hartnäckigem Beifall kommt sie doch noch
       mal auf die Bühne, nun im wirklich bequemen grauen Jogginganzug, die Mähne
       zum vielleicht 731. Mal schüttelnd, giggelnd – und dann ein „Thank you“,
       das war’s. Für uns.
       
       17 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /56-Ausgabe-des-Montreux-Jazz-Festival/!5866593
   DIR [2] /Nachruf-auf-Tina-Turner/!5936865
   DIR [3] /Queen-Elizabeth-II/!t5201258
   DIR [4] /Ein-Leuchten-aus-der-Retorte/!577303/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
       ## TAGS
       
   DIR Popmusik
   DIR Konzert
   DIR Musik
   DIR Ausstellung
   DIR Nachruf
   DIR Musik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ausstellung in London feiert die Diva: Ein gottähnliches Konzept
       
       Das Victoria & Albert Museum widmet einem Thema, das nicht nur feministisch
       ist, eine Sonderausstellung. „Diva“: eine mitreißende Schau.
       
   DIR Nachruf auf Tina Turner: Simply the very best
       
       Gewaltig, unbezwingbar, kraftvoll und zugleich charmant. Tina Turner,
       Pop-Titanin spätestens seit den 80er Jahren, ist mit 83 Jahren gestorben.
       
   DIR 56. Ausgabe des Montreux Jazz Festival: Ungeniert zusammen jammen
       
       Bei der 56. Ausgabe des Montreux Jazz Festival stand Hyperaktivität neben
       Glamour. Es gab jungen Jazz von Nubya Garcia und Superstars wie Diana Ross.