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       # taz.de -- Leistungen für Geflüchtete: Existenzminimum muss gedeckt sein
       
       > Die FDP-Minister Lindner und Buschmann wollen durch Leistungskürzungen
       > Pull-Faktoren mindern. Dabei geraten sie an verfassungsrechtliche
       > Grenzen.
       
   IMG Bild: Lindner und Buschmann wollen Geflüchteten bei Dublin-Fällen nur noch das Ticket zur Ausreise zahlen
       
       Freiburg taz | Finanzminister Christian Lindner und Justizminister Marco
       Buschmann (beide FDP) wollen Sozialleistungen für Asylsuchende absenken
       oder ganz streichen. Dies dürfte zumindest teilweise gegen die
       Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstoßen.
       
       Lindner und Buschmann gehen in einem [1][Gastbeitrag für die Welt am
       Sonntag] davon aus, dass es aus rechtlichen und faktischen Gründen in der
       Regel nicht gelingt, ausreisepflichtige Ausländer:innen abzuschieben.
       Deshalb müsse verhindert werden, dass sie überhaupt nach Deutschland
       kommen. Hierzu wollen sie finanzielle [2][„Pull-Faktoren“] reduzieren, die
       Deutschland vermeintlich attraktiv machen.
       
       So sollen bei der Berechnung des Existenzminimums Kosten für
       Festnetzanschlüsse, Kulturveranstaltungen und Zeitungen nicht mehr
       berücksichtigt werden. Leistungen sollen nur noch per elektronischer
       Bezahlkarte ausbezahlt werden.
       
       Das Bundesverfassungsgericht hat in einem [3][Urteil von 2012] und einem
       Beschluss von 2021 dazu Vorgaben gemacht. Danach darf das Leistungsniveau
       für Asylsuchende nicht unter das Existenzminimum abgesenkt werden, um
       Migrant:innen und Flüchtlinge abzuschrecken, nach Deutschland zu kommen.
       „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“,
       entschied das Gericht.
       
       ## Keine Differenzierung
       
       Allerdings hat der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum bei der
       Bestimmung des Existenzminimums. Darauf berufen sich die FDP-Minister. Sie
       wollen das Existenzminimum nicht unterschreiten, sondern nur ausgestalten.
       Das ist nicht per se verboten. So kann der Gesetzgeber laut
       Bundesverfassungsgericht frei entscheiden, ob er Bargeld, Gutscheine oder
       Sachleistungen auszahlt und ob er die Höhe der Leistungen nach einem
       Warenkorb oder anders berechnet.
       
       Beachten muss der Gesetzgeber aber, dass das Existenzminimum „einheitlich“
       gewährt werden muss. Eine Differenzierung nach körperlichen Bedürfnissen
       (Essen, Unterkunft, Hygiene) und sozialer Teilhabe (Telefon, Kultur,
       Medien) ist nicht möglich. Das haben Lindner und Buschmann bei ihrem
       Kürzungsvorschlag wohl übersehen. Zwar darf der Gesetzgeber bei einem
       „kurzzeitigen“ Aufenthalt von anderen Bedarfen ausgehen als bei einem
       längeren Aufenthalt. Allerdings wollen die Minister die Absenkungen gerade
       nicht auf eine kurze Ankunftssituation beschränken, sondern sogar zeitlich
       ausweiten.
       
       Außerdem schlagen Buschmann und Lindner vor, Flüchtlingen nur noch eine
       Fahrkarte zu bezahlen, wenn ein anderes Land nach den Dublin-Regeln für die
       Asylprüfung zuständig ist. Hier geht es nicht mehr um die Reduzierung von
       Pull-Faktoren, sondern um Druck auf Ausreisepflichtige.
       
       Im Asylbewerberleistungsgesetz gibt es schon seit 1998 Vorschriften, die
       eine Absenkung der Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ vorsehen, wenn
       Ausreisepflichtig die Abschiebung gezielt vereiteln. Das
       Bundessozialgericht (BSG) hielt den entsprechenden Paragrafen 1a in einem
       Urteil von 2017 für verfassungskonform. Die Gewährung des vollen
       Existenzminimums dürfe an die Einhaltung gesetzlicher Mitwirkungspflichten
       gebunden werden. Es ging dabei um einen Mann aus Kamerun, der bereits seit
       2003 ausreisepflichtig ist, die Abschiebung aber durch mangelnde
       Kooperation bei der Identitätsfeststellung verhinderte.
       
       ## „Noch“ keine Verletzung der Menschenwürde
       
       Gegen das BSG-Urteil erhob der Kameruner Verfassungsbeschwerde, die das
       Bundesverfassungsgericht in einer kaum bekannten Entscheidung von 2021
       abgelehnt hat. Anders als das BSG stellte es nicht darauf ab, dass der Mann
       die Absenkung der Leistungen selbst vermeiden könnte, indem er kooperiert.
       
       Vielmehr stellten die Richter:innen fest, dass die Beschränkung auf das
       „unabweisbar Gebotene“ die Menschenwürde „noch nicht“ verletze, weil auch
       hier das Existenzminimum gewährt werden muss – zumindest wenn der Bedarf im
       Einzelfall nachgewiesen wird. Vermutlich aus Angst vor Kritik hat das
       Bundesverfassungsgericht zu diesem Beschluss (1 BvR 2682/17) keine
       Pressemitteilung gemacht.
       
       Inzwischen wurde Paragraf 1a weiter verschärft. Es wird nicht einmal mehr
       das unabweisbar Gebotene garantiert. Vollziehbar ausreisepflichtige
       Ausländer, die nicht unverschuldet an der Ausreise gehindert sind, erhalten
       seit 2015 nur noch Unterkunft, Ernährung und Körper- und Gesundheitspflege.
       Sonstige Leistungen erhalten sie nur noch, „soweit im Einzelfall besondere
       Umstände vorliegen“. Damit sind in der Regel Leistungen des sozialen
       Existenzminimums (für Telefonate, Verkehr, Medien, Kultur) ausgeschlossen.
       Hierzu gibt es soweit ersichtlich noch keine Entscheidung des
       Bundesverfassungsgerichts.
       
       Die Idee, Flüchtlingen nur noch eine Fahrkarte in den nach dem
       Dublin-System zuständigen EU-Staat zu zahlen, war damals auch im Gespräch.
       Diesen Vorschlag des damaligen Innenministers Thomas de Maizière (CDU)
       verhinderte jedoch die SPD. Jetzt greifen ihn die FDP-Minister auf. Sollte
       er Gesetz werden, müsste das Bundesverfassungsgericht doch Farbe bekennen,
       ob die (nachholbare) Verletzung von Mitwirkungspflichten eine
       Unterschreitung des Existenzminimums erlaubt.
       
       30 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus248231898/Christian-Lindner-und-Marco-Buschmann-Die-neue-Migrations-Realpolitik.html
   DIR [2] /Flucht-uebers-Mittelmeer/!5952245
   DIR [3] /Urteil-zu-Leistungen-fuer-Asylbewerber/!5088707
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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