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       # taz.de -- Endspurt im Wahlkampf in Polen: „Marsch von einer Million Herzen“
       
       > Die größte Oppositionspartei mobilisiert mit einer beeindruckenden
       > Demonstration. Menschen aus ganz Polen kommen dafür nach Warschau.
       
   IMG Bild: Warschau am Sonntag: Die meisten Oppositionsanhänger in Polen mögen auch die EU
       
       Warschau taz | „Wir kommen aus Kattowitz“, sagt Aleksandra und legt den Arm
       um ihre Großmutter. Die 19-Jährige wird bei den polnischen Parlamentswahlen
       am 15. Oktober zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. “Die Regierung soll bloß
       nicht glauben, dass sie ganz Schlesien in der Tasche hat, nur weil es bei
       uns Kohle gibt“, setzt die 84-jährige Aldona hinzu.
       
       Als auf der Bühne [1][Donald Tusk] von der größten Oppositionspartei
       Bürgerkoalition den Versammelten auf dem Dmowski-Rondo zuruft „Wir werden
       siegen“ und ein hunderttausendfaches Echo zurückschallt „Wir werden
       siegen!“, fallen auch Aleksandra und Aldona ein.
       
       Die Begeisterung steckt immer mehr an. Viele mit roten Perücken springen
       hoch und rufen „Wir sind mit dem Roten“. Jarosław Kaczyński, der Parteichef
       der regierenden Nationalpopulisten Recht und Gerechtigkeit (PiS), hatte
       Tusk als „Rotschopf“ disqualifizieren wollen.
       
       Piotr ist mit seiner Frau Ewa aus Szczecin (Stettin) gekommen. Sie
       schwenken EU-Flaggen. „Wir wollen auf keinen Fall, dass die PiS uns aus der
       EU herausführt“, sagt der Eisenbahner. „Freiheit – für uns und unsere
       Kinder!“, ruft Ewa. Sie ist Erzieherin in einem Kindergarten.
       
       ## Tusk will mit der Demo Aufbruchsstimmung verbreiten
       
       Hunderttausende, wenn nicht gar eine Million Demonstranten sind auch für
       eine Stadt wie Warschau eine Herausforderung. Doch Polens Hauptstadt hat
       sich seit der letzten Großdemo der demokratischen Opposition am 4. Juni
       intensiv vorbereitet.
       
       Im Juni waren eine halbe Million Menschen nach Warschau gekommen, gut
       doppelt so viel wie erwartet. Sie erinnerten an die ersten freien Wahlen
       Polens vor 30 Jahren – am 4. Juni 1989.
       
       Damals schien es unmöglich, dass die Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung
       Solidarność gegen die Kommunisten gewinnen würde. Denn die kontrollierten
       die Medien und alle staatlichen Institutionen. Doch Solidarnosc siegte.
       
       Heute ist die Situation nicht viel anders, nur dass es die PiS ist, die
       heute die meisten Medien, Staatsunternehmen und Institutionen Polens
       kontrolliert. Mit dem „Marsch von einer Million Herzen“ wollte Tusk als
       Chef der Bürgerkoalition gemeinsam mit der gesamten demokratischen
       Opposition die Aufbruchstimmung und Zuversicht vor den Wahlen in zwei
       Wochen neu anfachen.
       
       ## Opposition kämpft auch gegen niedrige Wahlbeteiligung
       
       Das ist auch notwendig, denn Millionen Polen wollen am Wahltag zu Hause
       bleiben. Viele Bürger, insbesondere junge Frauen, sind überzeugt, mit ihrer
       Stimme nichts ausrichten zu können. Wiktoria, die jüngste Kandidatin der
       KO, wirbt daher auf der Bühne um die Erstwählerinnen und verweist auf ihren
       Namen: „Wiktoria – das heißt Sieg! Aber wir müssen auch zu den Wahlen gehen
       und unsere Stimme abgeben!“
       
       Trotz aller Anstrengungen der demokratischen Opposition liegt aber die
       nationalpopulistische PiS in den Umfragen mit bis zu 38 Prozent der Stimmen
       immer an erster Stelle. Die KO folgt mit bis zu 32 Prozent. Die Partei von
       Donald Tusk würde in jedem Fall ein bis zwei Koalitionspartner brauchen, um
       eine Regierung bilden zu können.
       
       Infrage käme das Mitte-rechts-Bündnis „Der dritte Weg“ aus der neu
       gegründeten liberal-katholischen Partei Polska2050 und der bäuerlichen
       Traditionspartei PSL. Allerdings ist Szymon Hołownia zu sehr auf das
       Eigenprofil seiner neuen Partei bedacht und nimmt nicht an der Warschauer
       Demo teil. Er enttäuscht damit viele. Bislang geht seine Taktik auch nicht
       auf. Sollte der Dritte Weg die 8-Prozent-Hürde nicht überspringen, würden
       die meisten der dann verlorenen Sitze im Abgeordnetenhaus an die PiS als
       stärkster Partei fallen. So ist das Wahlsystem.
       
       Der zweite potenzielle Koalitionspartner wäre das Linksbündnis Nowa Lewica
       (Neue Linke). Sie kommt in Umfragen auf 10 Prozent. Die beiden
       Parteivorsitzenden Włodzimierz Czarszasty und Robert Biedron feuerten die
       Demonstranten von der Bühne an: „Freiheit, Demokratie, keine Lügen mehr!“
       
       1 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Umstrittenes-Lex-Tusk-Gesetz/!5952585
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Lesser
       
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