URI: 
       # taz.de -- LGBTIQ und Migration: Flucht im Zeichen des Regenbogens
       
       > Queere Geflüchtete bekommen in Deutschland leichter Asyl als früher. Doch
       > weltweit nehmen Repressionen zu. Ein Überblick und drei Protokolle.
       
       Bis in die fernen USA verbreitete sich die Nachricht: „Libyscher
       LGBTIQ-Aktivist bekommt in Deutschland Asyl – in nur zehn Tagen“, schrieb
       das queere US-amerikanische Portal [1][Washington Blade]. Die Rede war von
       dem schwulen Journalisten Ayman M., der vor dem Terror des IS in der
       libyschen Hafenstadt Bengasi geflohen war und im Juli 2017 in Berlin einen
       Asylantrag stellte. Nur zehn Tage nach seinem Interview mit dem
       [2][Bundesamt für Migration und Flüchtlinge] lag die Anerkennung im
       Briefkasten der Wohnung in Berlin-Steglitz, die M. mithilfe queerer
       Unterstützer:innen angemietet hatte. Selbst bei Pro Asyl, denen in
       Sachen Asyl in Deutschland kaum etwas entgeht, war man baff: Zehn Tage,
       das dürfte Rekord sein, hieß es dort.
       
       Die enorme Kürze zeigt, dass Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung in
       Deutschland wie auch in einer Reihe anderer Länder heute als Fluchtgrund
       anerkannt ist – eine wichtige Entwicklung im Asylrecht der vergangenen
       Dekade. Bereits 2007 fand im indonesischen Yogyakarta eine Tagung
       renommierter Menschenrechtler*innen statt, die die Allgemeinen
       Menschenrechte auf die Bereiche sexuelle Orientierung und
       Geschlechtsidentität angewendet haben.
       
       Seither sind die sogenannten Yogyakarta-Prinzipien ein globaler Standard
       für die Sicherung von Menschenrechten für queere Personen, sie fanden in
       den vergangenen Jahren verstärkt auch Niederschlag in der Praxis. Die
       Behandlung von LGBTIQ sei bei „Staaten, der Zivilgesellschaft und der
       Wissenschaft zunehmend in den Blickpunkt gerückt“, stellte das
       UN-Flüchtlingswerk UNHCR 2021 fest.
       
       Ebenfalls wichtig ist, dass die queere Szene heute vielen Menschen
       informelle Hilfe und Solidarität bietet. „Von Menschen aus der Berliner
       LGBTIQ-Community habe ich viel Unterstützung bekommen, sie haben mir auch
       einen Anwalt vermittelt“, sagt Ayman M. Projekte wie die [3][Rainbow
       Welcome Map] zeigen in vielen Ländern Europas zivilgesellschaftliche
       Anlaufstellen für LGBTIQ-Geflüchtete.
       
       ## Zahl der Schutzsuchenden steigt
       
       Mehr offizielle Anerkennung, mehr Unterstützung – diese Entwicklungen sind
       erfreulich, beschränken sich allerdings nach wie vor auf bestimmte Staaten.
       Global betrachtet ist der Fall Ayman M. eine große Ausnahme. LGBTIQ haben
       bis heute in vielen Ländern in der Regel große Schwierigkeiten, Schutz zu
       finden.
       
       Populismus, Anti-Wokeness und Islamismus befeuern Queerfeindlichkeit, auch
       in den Transit- und Zielländern globaler Fluchtbewegungen. Queeren Menschen
       droht heute in mehr als 60 Staaten strafrechtliche Verfolgung. 34 dieser
       Staaten haben diese Gesetze in den vergangenen Jahren aktiv angewandt. In
       sieben Staaten droht unter bestimmten Umständen die Todesstrafe:
       Saudi-Arabien, Jemen, Iran, Brunei, Nigeria (extralegale Tötung mit Bezug
       auf Scharia im Norden), Mauretanien und Uganda.
       
       Fest steht: „Die Zahl der Schutzsuchenden in dem Bereich nimmt zu“, sagt
       Eujin Byun, die beim UNHCR für das Thema zuständig ist, der wochentaz.
       „Gleichzeitig trauen sich viele LGBTIQ-Flüchtende nicht, den wahren Grund
       für ihre Verfolgung zu nennen“, sagt Eujin Byun. Sie fürchteten Übergriffe
       durch andere Flüchtende – oder in den Ländern, in die sie kommen.
       
       Diese Sorgen sind nicht unbegründet. 2021 hat der UNHCR eine internationale
       Konferenz zu dem Thema veranstaltet. Dabei wies die Organisation darauf
       hin, dass LGBTIQs während der Flucht und auch nach Ankunft in
       Asylunterkünften „Stigmatisierung, sexueller und geschlechtsspezifischer
       Gewalt, Missbrauch oder mangelndem Schutz durch Sicherheitskräfte“
       ausgesetzt seien, sie litten unter „willkürlicher Inhaftierung, Abschiebung
       und Ausschluss vom Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen“. Ihre Flucht
       könne in Ländern enden, in denen sie „einem ähnlichen oder höheren Risiko
       homophober, bi- oder transphober Gewalt ausgesetzt sind, sowohl von
       Staatsangehörigen des Aufnahmelandes als auch von anderen Vertriebenen“.
       Betroffene, mit denen die wochentaz gesprochen hat, bestätigen das.
       
       ## Keine Erwähnung in der Genfer Konvention
       
       In sechs der Top-10-Flucht-Zielländern ist LGBTIQ-Feindlichkeit heute offen
       staatliche Politik: in Iran, Äthiopien, Bangladesch, Sudan, Uganda und
       Pakistan. Wegen der geografischen Nähe zu bewaffneten Konflikten oder
       aufgrund von Vertreibungen sind viele Millionen Menschen trotz fehlender
       Menschenrechtsstandards in diese Staaten geflohen.
       
       In drei weiteren Ländern – Polen, der Türkei und Russland – ist es um die
       LGBTIQ-Rechte ebenfalls nicht zum Besten bestellt. Und auch in den USA
       nimmt durch das Erstarken der religiösen Rechten Queerfeindlichkeit zu. Im
       März 2022 etwa trat in Florida das sogenannte [4][„Don’t say gay-Gesetz“]
       in Kraft – sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität dürfen bis zur
       12. Klasse nicht mehr Teil des Lehrplans sein. Das Portal queer.de schätzt,
       dass allein im Jahr 2022 in den 51 Bundesstaaten [5][bis zu 400
       queerfeindliche Gesetzentwürfe] eingebracht wurden.
       
       Dabei begründet Verfolgung als LGBTIQ heute in vielen Ländern einen
       formalen Schutzanspruch. In der Genfer Konvention ist zwar weder sexuelle
       Orientierung noch sexuelle Identität explizit erwähnt. Die Rede ist
       allerdings von einer „begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der
       Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“. Darunter werden heute
       auch LGBTIQ verstanden, entsprechend haben sie die Möglichkeit, Asylanträge
       zu stellen. Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger internationaler
       juristischer Auseinandersetzungen, die ab Mitte der 1990er Jahre begannen,
       Früchte zu tragen.
       
       Vollständige Sicherheit bedeutet dies mitnichten. LGBTIQ-Geflüchtete müssen
       heute in Asylverfahren einerseits ihre sexuelle Orientierung oder
       geschlechtliche Identität „glaubhaft vortragen“. Doch dies gelinge vielen
       „aus Angst, Scham und/oder Unwissenheit nicht oder nicht sofort“, schreibt
       der [6][Lesben- und Schwulenverband Deutschland]. „Sie scheitern immer
       wieder an stereotypen Vorstellungen von Entscheider*innen und
       Richter*innen.“
       
       Tschechien wurde 2010 etwa von der EU gerügt, weil es sogenannte
       Phallometrie-Tests angewandt hatte: In einigen Fällen wurden homosexuellen
       Asylsuchenden Pornofilme gezeigt und dabei der Blutfluss im Penis gemessen.
       So sollte die Erregung festgestellt und überprüft werden, ob die
       Betreffenden tatsächlich schwul waren. In Großbritannien fragen Beamte nach
       detaillierten Schilderungen der „emotionalen Reise“, die die Entdeckung der
       eigenen Homosexualität für die Schutzsuchenden bedeutete – eine für viele
       Betreffende gegenüber Fremden kaum zu leistende Anforderung.
       
       ## Geheimhaltung darf nicht erwartet werden
       
       Hinzu kommt, dass queere Personen darlegen müssen, dass ihnen bei Rückkehr
       in ihr Herkunftsland tatsächlich konkrete Verfolgung droht, die über bloße
       Beschimpfungen hinausgeht. Viele Asylanträge in der EU wurden lange mit der
       Begründung abgewiesen, die Menschen könnten mit Geheimhaltung oder
       „diskretem Verhalten“ einer Verfolgung entgehen.
       
       In Deutschland etwa befand das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch
       2012, dass zwei homosexuelle Frauen aus Iran kein Asyl bekommen sollten,
       weil dort zwar auf Homosexualität die Todesstrafe stehe, aber die
       „Veranlagung als solche“ nicht strafbar sei. Würden Homosexuelle „nicht mit
       ihren Neigungen auf der Straße provozieren“, heißt es im Bescheid, dann
       könnten sie ein „unproblematisches Leben im Schatten des Rechts“ führen.
       
       Der [7][Europäische Gerichtshof entschied indes 2013], dass von
       Geflüchteten nicht erwartet werden könne, dass sie ihre Homosexualität in
       ihrem Herkunftsland geheim halten oder Zurückhaltung üben, um eine
       Verfolgung zu vermeiden. Das [8][Bundesverfassungsgericht bekräftigte
       2020], dass die Geheimhaltung der sexuellen Orientierung zur Vermeidung von
       Verfolgung nicht erwartet werden dürfe.
       
       Humanitäre Visa für gefährdete Personen sind auch im Koalitionsvertrag der
       Ampel vereinbart – die Ausstellung erfolgt aber oft nur sehr schleppend. Im
       Juli forderte die „Queere Nothilfe“ die Bundesregierung in einem Brief auf,
       Menschen aus Uganda die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen. In dem
       ostafrikanischen Land war im Mai der [9][„Anti-Homosexuality Act“ in Kraft]
       getreten. Passiert ist bislang nichts. Humanitäre Visa werden generell
       recht selten vergeben: Unter 1,27 Millionen im Jahr 2022 von deutschen
       Konsulaten ausgestellten Visa waren nur rund 26.000 humanitäre Visa.
       
       Das Asylrecht steht heute stark unter Druck, und das nicht nur in
       Deutschland. Bei einer Rede vor der konservativen Denkfabrik American
       Enterprise Institute in den USA sagte die britische Innenministerin Suella
       Braverman im September, Menschen, die wegen ihrer Geschlechtsidentität oder
       Sexualität diskriminiert würden, sollten kein Asyl erhalten, wenn ihnen
       nicht wirklich Tod, Folter, Unterdrückung oder Gewalt drohe. „Wir werden
       kein Asylsystem aufrechterhalten können, wenn es ausreicht, einfach nur
       homosexuell oder eine Frau zu sein oder Angst vor Diskriminierung in seinem
       Herkunftsland zu haben, um Schutz zu erhalten.“
       
       Was Braverman sagte, reiht sich ein in Äußerungen führender konservativer
       Politiker der vergangenen Monate, die das Asylrecht in Europa abbauen
       wollen. Es gab in der letzten Dekade erfreuliche Entwicklungen für queere
       Menschen. Doch es ist gut möglich, dass die Schutzmechanismen für LGBTIQ
       angesichts des Drucks bald wieder erodieren.
       
       ## Massam Hussain Ansari aus Pakistan
       
       Massam Hussain Ansari, 36, ist homosexuell und lebt in Köln. 
       
       Ich bin in Karatschi aufgewachsen, im Süden von Pakistan. Mit 15 Jahren
       habe ich gemerkt, dass ich schwul bin. Uns wurde gesagt, es sei eine Sünde,
       aber ich fühlte mich immer zu Männern hingezogen und konnte es niemandem
       sagen. Als ich 20 war, starb mein Vater an einem Herzleiden. Fortan musste
       ich mich um die Erziehung und die Heirat meiner vier Schwestern kümmern. In
       der patriarchalischen muslimischen Gesellschaft Pakistans ist es
       traditionell die Aufgabe des Bruders, dafür zu sorgen, dass seine
       Schwestern verheiratet werden.
       
       Um meine Familie zu unterstützen, habe ich in einem Ingenieurbüro in
       Karatschi gearbeitet. Ich habe eine Beziehung mit einem Kollegen
       angefangen, einem Mann aus den nördlichen Provinzen Pakistans. Ich stellte
       mir ein typisches Familienleben mit ihm vor. Doch die Beziehung hat nicht
       lange gehalten, wir haben uns viel gestritten. Ich habe keine Zukunft mehr
       für mich gesehen und war verzweifelt. Mit 23 habe ich versucht, meinem
       Leben ein Ende zu setzen. Das hat in meiner Familie ein großes Drama
       ausgelöst. Denn dadurch wurde ich auch als schwul entlarvt.
       
       Nach dieser Krise war ich entschlossen, mein Leben als schwuler Mann zu
       leben. 2014, damals war ich 27, habe ich meinen Partner Akbar auf Manjam
       kennengelernt, das war eine damals in Pakistan sehr beliebte Dating-Website
       für Schwule, sie wurde später verboten. Ich wusste: Es ist riskant, in
       Pakistan einen Fremden über eine Website für Schwule zu treffen.
       Andererseits war es eine der wenigen Plattformen, die eine große, aber
       verstreute Gruppe schwuler Männer in den Großstädten miteinander verbunden
       hat.
       
       Zusammen mit Akbar bin ich schließlich nach Lahore gezogen. Wir wollten
       einen Neuanfang wagen, weit weg von Karatschi. Mir war nicht klar, wie sehr
       sich mein Leben dadurch verändern würde. Fast ein Jahrzehnt waren wir
       zusammen, wir lebten gemeinsam in einer Wohnung in Lahore. Unsere Beziehung
       war in der LGBTQ-Gemeinschaft von Lahore bekannt. Ich denke, wir waren ein
       Vorbild für viele, die diskret ein queeres Leben führten.
       
       Ich arbeitete in dieser Zeit mit verschiedenen pakistanischen
       Queer-Organisationen zusammen. 2019 wurde ich dann von der Polizei in
       Lahore verhaftet. Ich wurde der „Förderung der Homosexualität“ verdächtigt;
       die Behörde ist dem Tipp eines ehemaligen Kollegen nachgegangen. Mein
       Partner Akbar wurde verhört, mein Laptop nach Beweisen für Kampagnen und
       Schwulenpornografie durchsucht. Später haben sie mich freigelassen, aber
       unter Polizeiaufsicht gestellt.
       
       Das waren schwierige Jahre. 2021 wurde bei mir HIV diagnostiziert. Akbar
       und ich, wir trennten uns 2022. Im April 2022 habe ich ein Stipendium
       erhalten, mit dem ich nach Köln reisen und drei Monate an einem Projekt des
       Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) teilnehmen konnte.
       Während ich hier war, haben die pakistanische Bundespolizei und der
       militärische Geheimdienst eine Razzia an meinem Arbeitsplatz in Lahore
       durchgeführt. Sie beschuldigten uns, an einer ausländischen Agenda zu
       arbeiten, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzt.
       
       Wäre ich nach Pakistan zurückgegangen, ich wäre bestimmt verhaftet worden.
       Deshalb habe ich mich schließlich entschieden, einen Asylantrag zu stellen.
       Dabei war das nie der Plan. Natürlich vermisse ich meine Heimat.
       
       In Köln habe ich mich neu verliebt. Ich habe Fritz kennengelernt, er ist
       81, ein Kunstsammler und Kurator. Wir haben uns einfach gut verstanden,
       weil wir beide erlebt haben, wie es ist, als Homosexuelle diskriminiert zu
       werden, aber in ganz unterschiedlichen Zeiten, Umständen und Teilen der
       Welt.
       
       Ich habe mich in einem Flüchtlingslager in Bochum registriert, nur so
       konnte ich Asyl beantragen. Im September 2022 wurde ich vom Bundesamt für
       Migration und Flüchtlinge befragt, vier Stunden hat das Gespräch gedauert.
       Eine Woche nach der Anhörung bekam ich Asyl. So schnell ging es wohl auch
       deshalb, weil der LSVD mich während des Verfahrens betreut und beraten hat.
       Da meine Lebensbedingungen bei Zuschlag besser waren als im
       Flüchtlingslager, durfte ich weiter bei Fritz leben.
       
       Ich liebe mein Leben in Köln. Ich habe einen großen Freundeskreis. Jetzt,
       da ich Asyl erhalten habe, freue ich mich darauf, eine Krankenversicherung
       für die HIV-Behandlung zu bekommen, ein Bankkonto zu eröffnen und durch
       Europa zu reisen. Außerdem unterstütze ich queere Menschen in Pakistan aus
       der Ferne und ermutige meine trans Freunde, das Land zu verlassen und Asyl
       zu beantragen. Für queere Menschen dort wird es nur noch schlimmer werden,
       und ich möchte etwas in ihrem Leben bewirken, so wie Fritz es in meinem
       getan hat.
       
       ## Shahram Ahmadi aus dem Iran
       
       Shahram Ahmadi , 40, bezeichnet sich selbst als schwul und bisexuell. Er
       lebt in Berlin. 
       
       Aufgewachsen bin ich in Kermanschah, einer überwiegend kurdischsprachigen
       Stadt. Schon da hatte ich eine homosexuelle Beziehung, bei meiner Familie
       habe ich mich aber nicht geoutet. 2016 habe ich mich von meinem Freund
       getrennt.
       
       Ich bin nach Teheran gezogen, ich wollte wissen, was die Hauptstadt zu
       bieten hat. Dort habe ich als Busfahrer gearbeitet, ich verdiente ein
       anständiges Einkommen, lebte in einer eigenen Wohnung. In Teheran habe ich
       mich diskret mit anderen schwulen Männern in einem Park getroffen. Das war
       sehr riskant. Aber es war ein Traum für mich zu sehen, dass es einen
       solchen Park gibt und dass so viele queere Menschen dort hingehen.
       
       Ich habe die queere Szene der Stadt kennengelernt, bin zu heimlichen
       Treffen gegangen. 2019 war ich auf einer queeren Party. Die Polizei hatte
       einen Hinweis bekommen, sie stürmte die Veranstaltung, ich wurde verhaftet.
       Ich kam wieder frei, allerdings wurde gegen mich ein Verfahren eröffnet.
       Deshalb beschloss ich zu fliehen.
       
       Im August 2019 reiste ich nach Istanbul und suchte dort Schleuser, die mich
       nach Griechenland bringen könnten. Beim ersten Versuch wurde ich betrogen,
       sie setzten unsere Gruppe einfach in einem Wald aus. Ich bin nach Istanbul
       zurückgekehrt, andere Schleuser brachten mich in einem kleinen Boot auf die
       griechische Insel Lesbos.
       
       Wir kamen ins Flüchtlingslager Moria. Die hygienischen Bedingungen waren
       katastrophal, es gab auch Bandengewalt im Camp. Eines der Bandenmitglieder
       war mein Zimmergenosse, und er wusste, dass ich eine Beziehung mit einem
       Mann hatte. Er erpresste mich und drohte mir, dass er mich vor allen in
       Moria als schwulen Mann outen würde. Ich musste ihm Geld zahlen und Sex
       anbieten.
       
       2020 gelang es mir, das Camp zu verlassen. Flüchtlingshelfer*innen
       unterstützten mich dabei, ins Lager Pikpa in der Nähe von Mytilini auf
       Lesbos umzuziehen. Dort sind die Lebensbedingungen besser, es gibt eine
       LGBTQ-Gruppe, der habe ich mich angeschlossen. Ich habe Asyl beantragt und
       bekam eine griechische Aufenthaltsgenehmigung. Ich verließ das Lager und
       ging nach Mytilini, wo ich verschiedene Jobs annahm, unter anderem als
       Übersetzer von Dari oder Farsi ins Englische. Ich mietete auch eine eigene
       Wohnung.
       
       Mit meinem neuen Leben war ich zufrieden, doch die Bande, die mich in Moria
       erpresst hatte, drohte mir erneut. Sie sagten, sie würden online
       verbreiten, dass ich schwul bin, und das auch in meiner Heimat publik
       machen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und floh nach Thessaloniki.
       Mit dem Flugzeug bin ich dann nach Berlin geflogen und habe dort im
       Februar 2022 ein zweites Mal Asyl beantragt.
       
       Ich wollte nach Berlin, weil ich hier Freunde habe und NGOs kenne, die
       queeren Flüchtlingen helfen. Im März 2022, einen Monat nach meiner
       Ankunft, bin ich in eine Flüchtlingsunterkunft in Treptow-Köpenick gezogen.
       Sie bietet Platz für 120 queere Flüchtlinge und ist die größte Unterkunft
       für queere Geflüchtete in Deutschland. Ich teile mir mein Zimmer mit drei
       anderen schwulen Flüchtlingen. Unsere vier Metallbetten sind nur durch eine
       Trennwand voneinander abgeteilt. Meine Habseligkeiten bewahre ich unter dem
       Bett auf, in kleinen Tüten und einem Pappkarton. Das Zimmer hat eine
       Speisekammer, ein eigenes Bad und einen Balkon mit Blick auf den Hinterhof.
       
       Meine Mitbewohner kommen aus verschiedenen Ländern wie Afghanistan, Irak
       und Iran, sie wechseln, sobald sich ihr Asylstatus ändert. Das größte
       Problem ist der Mangel an Privatsphäre. Weil das Zimmer eng ist, gibt es
       oft Spannungen. Nachts wache ich auf, weil mein Mitbewohner, ein Mann aus
       dem Irak, schnarcht. Das klingt wie ein kleines Problem, aber ich kann
       keinen Job finden oder arbeiten, wenn ich tagelang nicht richtig geschlafen
       habe. Eine Arbeitserlaubnis für Deutschland habe ich inzwischen.
       
       Ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich werde behandelt,
       aber das hilft nur begrenzt. Im vergangenen Winter ging es mir so schlecht,
       drei Nächte hintereinander konnte ich nicht schlafen, ich sah keine
       Zukunft mehr für mich in Berlin und habe versucht, mir nachts in der
       Gemeinschaftsküche der Unterkunft das Leben zu nehmen.
       
       Seit diesem Frühjahr geht es mir etwas besser. Im April 2023 habe ich Asyl
       bekommen. Ich lebe weiterhin in der Unterkunft, suche aber nach einer
       eigenen Wohnung. 502 Euro bekomme ich vom Landesamt für
       Flüchtlingsangelegenheiten im Monat, das reicht kaum aus, um davon zu
       leben.
       
       Als ich nach Berlin kam, versuchte ich mein Einkommen für ein paar Monate
       mit Sexarbeit aufzubessern. Ich bin durch arabische Viertel in Berlin
       gelaufen, um meine Kunden zu finden. Ich hatte Angst davor, das online zu
       tun, da meine Familie es herausfinden könnte. Sexarbeit ist oft
       erniedrigend und auch unsicher. Deshalb will ich jetzt einen anderen Job
       suchen.
       
       Ich habe die queere Szene in Berlin entdeckt, das „Ficken 3000“ in
       Kreuzberg ist mein Stammlokal geworden. Trotz aller Schwierigkeiten ist
       mein Leben in Berlin sicher, es geht mir hier viel besser als im Iran oder
       auch in Griechenland.
       
       ## Alex Stone aus den USA
       
       Alex Stone (Name geändert), 40, definiert sich als agender, fühlt sich also
       keinem Geschlecht zugehörig. Stone lebt derzeit in Berlin. 
       
       Ich habe in den Vereinigten Staaten an der Indiana University studiert und
       dort bei Campus-Aktivitäten der Demokratischen Partei mitgemacht. Ich habe
       mich auch gegen Neonazi-Gruppen engagiert, es wurden mir Morddrohungen nach
       Hause geschickt. Wegen dieser politischen Bedrohung, aber auch wegen meiner
       geschlechtlichen Identität konnte ich nicht frei im Bundesstaat Indiana
       leben. Ich hatte große Angst vor einem Übergriff.
       
       Die erwies sich leider als berechtigt. 2015 wurde ich in Indiana von einem
       Auto überfahren. Seitdem habe ich bleibende körperliche und seelische
       Verletzungen, unter anderem wurde mein Rückenmark verletzt. Ich fand
       heraus, dass es sich bei dem Fahrer des Wagens um einen Polizeibeamten
       handelte, der mit der Traditionalist Worker Party zu tun hatte, einer
       rechtsextremen antisemitischen Neonazi-Gruppe, die sich für „rassisch
       reine“ Nationen einsetzt. Was sollte ich tun? Man kann die Polizei
       schließlich nur schwer auf die Polizei ansetzen.
       
       Ein Umzug in einen anderen Bundesstaat kam für mich nicht in Frage. Ich
       wusste, ich würde mich nirgendwo sicher fühlen, vor den Angreifern, den
       Drohungen. Ich wusste keine Lösung und beschloss im Jahr 2018, nach Berlin
       zu fliehen.
       
       Ich kannte die Stadt bereits, ich hatte hier eine Zeit lang Geschichte
       studiert. Damals habe ich auch das Grundgesetz kennengelernt. Ich wusste,
       dass das Recht auf Asyl in Deutschland ein Grundrecht ist. Ich kannte
       allerdings keinen Präzedenzfall, in dem eine queere Person aus den USA Asyl
       in Deutschland beantragt hätte. Es war eine Herausforderung, das Bundesamt
       für Migration und Flüchtlinge davon zu überzeugen, dass queere Menschen in
       den USA nicht sicher sind und ich deshalb Anspruch auf Asyl habe.*
       
       Asyl habe ich nicht bekommen. Ich werde aber geduldet, das heißt, ich werde
       nicht abgeschoben – erstmal. Ich habe große Angst, über Nacht doch wieder
       mein Zuhause zu verlieren.
       
       In meinem ersten Jahr in Deutschland wohnte ich in einer
       Flüchtlingsunterkunft für queere Personen in Berlin. Ich hatte dort eine
       schlimme Zeit, es gab Transphobie und Gewalt gegen geschlechtsuntypische
       Menschen, einschließlich sexueller Übergriffe. Ich fühlte mich von der
       Heimleitung nicht unterstützt und suchte mir schließlich eine eigene
       Wohnung.
       
       Seit vier Jahren lebe ich nun allein. Ich bekomme finanzielle Unterstützung
       vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, 502 Euro pro Monat. Mein
       Status als geduldete Person erlaubt es mir nicht, einer
       Vollzeitbeschäftigung nachzugehen, dabei könnte ich arbeiten, ich habe auch
       Qualifikationen.
       
       *Anm. d. Red.: Proteste gegen queere Menschen haben in den USA in den
       vergangenen Jahren stark zugenommen, gleichzeitig werden vielerorts ihre
       Rechte angegriffen. So wurden in Texas zum Beispiel in der aktuellen
       Legislaturperiode [10][140 queerfeindliche Gesetzesentwürfe] von
       Abgeordneten des Staates eingereicht. Im August hat Kanada eine Warnung an
       seine LGBTQ-Bürger*innen herausgegeben und rät ihnen bei Reisen in die USA
       zur Vorsicht.
       
       23 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.washingtonblade.com/2017/08/15/exclusive-libya-lgbt-activist-receives-asylum-germany/
   DIR [2] https://www.bamf.de/DE/Startseite/startseite_node.html
   DIR [3] https://rainbowelcome.eu/map/
   DIR [4] /Dont-Say-Gay-Gesetz-in-Florida/!5841735
   DIR [5] https://www.queer.de/detail.php?article_id=44974
   DIR [6] https://www.lsvd.de/de/ct/6009-Asylrecht-Bei-homo-und-bisexuellen-Gefluechteten-darf-nicht-von-diskretem-Leben-ausgegangen-werden
   DIR [7] /Urteil-des-Europaeischen-Gerichtshofs/!5055465
   DIR [8] https://www.asyl.net/fileadmin/user_upload/dokumente/28078.pdf
   DIR [9] /Anti-Homosexualitaets-Gesetz-in-Uganda/!5923808
   DIR [10] /LGBTQI-Proteste-in-den-USA/!5938243
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
   DIR Kennith Rosario
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR wochentaz
   DIR IG
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Geflüchtete
   DIR GNS
   DIR Russland
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Utopie
   DIR Migration
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Transpersonen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Pride-Monat: Doppelte Diskriminierung
       
       Queere Menschen mit Migrationshintergrund werden oft von ihren ethnischen
       Gruppen ausgegrenzt. Auch in der LGBTQ-Community gibt es noch Vorurteile.
       
   DIR Unterkunft für LGBTQI*-Geflüchtete: Gerne queer – bloß nicht hier
       
       In Hamburg sollte eine Unterkunft für queere geflüchtete Menschen
       entstehen. Die Nachbarn verhinderten das aus Angst, ebenfalls bedroht zu
       werden.
       
   DIR Digitale Stigmatisierung von Sexarbeit: Das sozialste Gewerbe der Welt
       
       Das Internet wird für Sexarbeiter*innen immer wichtiger. Doch
       Plattformen und Zahlungsdienstleister aus den USA erschweren ihnen das
       Leben.
       
   DIR LGBTQ-Feindlichkeit: Razzien gegen Schwulenclubs in Moskau
       
       Unter Präsident Putin werden queere Menschen in Russland geradezu verfolgt.
       Nun greift eine neue, noch repressivere Regelung.
       
   DIR LGBTQ+-Rechte in Taiwan: Die Lücke im Regenbogen
       
       Taiwan ist Asiens Vorreiter für LGBTQ+-Rechte – aber Menschen aus China
       werden von der gleichgeschlechtlichen Ehe ausgeschlossen. Ein Paar klagt.
       
   DIR Utopien weltweit: Gerechtigkeit, Freiheit, Toleranz
       
       Was wünschen sich junge Menschen außerhalb Europas für die Zukunft?
       Protokolle aus Kampala in Uganda und Bangkok in Thailand.
       
   DIR Grüne Kritik an Aussagen von Scholz: „Eines Kanzlers unwürdig“
       
       Olaf Scholz spricht im „Spiegel“ von Abschiebungen „im großen Stil“. Teile
       der Grünen kritisieren dies scharf, allen voran ihre Jugendorganisation.
       
   DIR LGBTQI-Proteste in den USA: Versammelt im Kapitol
       
       In Texas stellen sich nicht nur Aktivist:innen gegen die
       queerfeindliche Politik der Republikaner. Diese fürchten, ihre Macht zu
       verlieren.
       
   DIR Queere Geflüchtete in Deutschland: Schutz vor homofeindlicher Gewalt
       
       Noch 2022 erklärte ein Richter einem schwulen Geflüchteten aus Algerien, er
       könne dort ja diskret leben. Nun wurde er doch als Flüchtling anerkannt.
       
   DIR Queere Ukrainer*innen in Deutschland: „Ich war alleine und verloren“
       
       In der Ukraine tobt der Krieg, in der Hoffnung auf ein sicheres Leben
       fliehen Tausende. Doch für Queers ist die Flucht deutlich gefährlicher.