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       # taz.de -- Kulturszene Polens nach der Wahl: In ihrer Haltung bestärkt
       
       > Nach der Parlamentswahl in Polen zeichnet sich ein Regierungswechsel ab.
       > Wie reagiert die Kulturszene des Landes darauf?
       
   IMG Bild: „Alles wird immer schlimmer“: Paweł Żukowski bei einer Demonstration 2018 vorm Warschauer Parlament
       
       Der Ausgang der Parlamentswahlen in Polen am vergangenen Sonntag gibt zwar
       Anlass zu Optimismus, ihn als überwältigenden Sieg des progressiven Lagers
       einzustufen, fällt momentan dennoch schwer. Denn die vergangenen acht Jahre
       unter der Regierung der rechtskonservativen Partei PiS werfen lange
       Schatten, auch auf die Zukunft der polnischen Gesellschaft. Ersichtlich
       schon daran, dass trotz der hohen Wahlbeteiligung und des unerwartet
       deutlichen Erfolgs der liberalen PO die zweit- und drittstärksten Kräfte,
       die aus den Wahlen hervorgegangen sind, jeweils zwei christdemokratisch
       geprägte Parteien aus dem konservativen Lager wurden.
       
       Władysław Kosiniak-Kamysz, einer der beiden Vorsitzenden der Partei Dritter
       Weg, die 15 Prozent der Stimmen erhielt, schickte Koalitionsverhandlungen
       bereits voraus, dass „Fragen zum Lebensstil“ wie das Recht auf Abtreibung
       bis zur zwölften Schwangerschaftswoche und die Grundrechte für LGBT dann
       keinesfalls zur Diskussion stünden.
       
       Für die Mehrheit der Pol:innen war vor der Wahl das erklärte Ziel, die
       PiS an einer weiteren Amtszeit als Regierungspartei zu hindern. Zu viel
       Verwüstung hatte sie bereits im demokratischen System angerichtet, mit
       katastrophalen Auswirkungen für das Justizwesen, die Gesundheitsversorgung
       und Bildungspolitik. Am verheerendsten wirkten sich die Umbesetzungen bei
       Kulturinstitutionen aus, wo konservative Kandidaten der PiS mit
       entsprechender Agenda in Leitungsfunktionen kamen.
       
       ## Inkompetentes, aber konformes Personal dank PiS
       
       Vor acht Jahren habe ich an dieser Stelle schon einmal über den Kulturkampf
       der PiS geschrieben. Damals [1][ging es um den Abbau des bestehenden
       Kulturmanagements und um direkte Eingriffe ins Programm von
       öffentlich-rechtlichen Medien]. Komplette [2][TV- und Radioredaktionen
       wurden seinerzeit entlassen], Leitungsebenen wichtiger Kulturinstitutionen,
       Museen und Staatstheater ausgetauscht und durch ein oft völlig
       inkompetentes und unerfahrenes, aber konformes Personal ersetzt.
       
       Tatsächlich gewann PiS mit diesen Praktiken einige Zustimmung in der
       Bevölkerung, weil es um mehr ging als nur um Neoliberalismus: Sie suchte
       nach einer neuen ideologisch geformten Realität, und zunächst kam die PiS
       mit diesem Programm auch durch.
       
       Von heute aus lassen sich die Verwerfungen genauer betrachten. In den
       meisten polnischen Museen sind konservative, ideologisch verderbliche und
       ästhetisch rückwärtsgewandte Kunstwerke ausgestellt. Nur mit gutem Willen
       lässt sich dabei von Alten Meistern sprechen. Dabei tritt ein
       Kunstverständnis zutage, das über Kreuz liegt mit den sozialkritischen
       Programmen, die namhafte Institutionen der zeitgenössischen Kunst zuvor
       verfolgt hatten. Die PiS interpretierte Kulturpolitik rein als
       Geschichtspolitik, und dadurch entwickelte sich Kultur weg von der
       Gegenwart hin zur Vergangenheit.
       
       ## Beschränkte Sichtweise von rechtsaußen
       
       Nicht nur Stammwähler der PiS, viele polnische Bürger:innen begrüßten
       diesen Schritt nach rechts außen zunächst. Denn in dieser beschränkten
       Sichtweise wurden tragende Elemente der nationalen polnischen Identität von
       öffentlich-rechtlichen Medien und Kulturinstitutionen nur unzureichend
       dargestellt. Nach 1989 und der Öffnung des Eisernen Vorhangs begaben sich
       viele postkommunistische Gesellschaften in Osteuropa auf die Suche nach
       ihrer je eigenen Identität.
       
       Diese Abkehr von der kommunistischen Vergangenheit führte in vielen Fällen
       zu einem Wiederaufflackern von unterdrückten Formen des Patriotismus und
       Nationalismus, wie es sie in der Zwischenkriegszeit 1918–1939 bereits
       gegeben hatte. In Polen war diese Auseinandersetzung im Grunde ein
       schwieriges Zurechtfinden zwischen „Ost“ und „West“. Wobei mit „dem
       Westen“, nicht immer korrekt, ein Hort von ewigem sozialem Fortschritt und
       von größerer sexueller Toleranz assoziiert wurde.
       
       Das Beschneiden abweichender Normen, von alldem also, was jenseits von
       Heteronormativität und Katholizismus liegt, bekommt in Polen am härtesten
       die LGBT-Community zu spüren. Der Künstler und LGBT-Aktivist Paweł
       Żukowski, der sich in seinem Werk darauf spezialisiert hat, radikale
       Slogans künstlerisch auszugestalten, zählt die geltenden Zensurmaßnahmen
       der PiS-Regierung zu den größten Herausforderungen für die zukünftige
       Regierung.
       
       „Wir müssen als Erstes ein Gesetz rückgängig machen, das wegen angeblicher
       ‚Verletzung religiöser Gefühle‘ erlassen wurde“, sagt er der taz. „Damit
       kann begründeter politischer Protest ganz legal zensiert werden.“
       
       ## Zensurparagraf gegen politische Kunst
       
       Als Beispiel nennt Żukowski das Schicksal von [3][drei feministischen
       Kunstaktivistinnen, die bei einer Demonstration für die Legalisierung von
       Abtreibung ein Bild der Mutter Gottes mit einer Regenbogenfahne verhüllt
       hatten]. Nach einer Gerichtsverhandlung wurde das Trio zunächst
       freigesprochen. Nun droht den Frauen erneut der Prozess. Eigentlich ist
       ihre Kunst als radikal politisch einzustufen, aber mit dem Zensurparagrafen
       werden Institutionen daran gehindert, feministische Kunstwerke für ihre
       Sammlungen zu erwerben.
       
       „Politisch engagierte Kunst hat es in der öffentlichen Wahrnehmung schwer
       oder sie wird nach wie vor aus Ausstellungen entfernt“, bekräftigt
       Żukowski. Zensurvorwürfe zu überprüfen sei ohnehin schwierig, weil solche
       Eingriffe oftmals subtil vorgenommen werden.
       
       In der Wahrnehmung einer Museumsleiterin, die dafür gesorgt hatte, dass
       ihre Institution weiterhin nach demokratischen Prinzipien organisiert ist
       und transparent bleibt, waren die letzten Jahre ein einziger Albtraum: Die
       Kunsthistorikerin Hanna Wróblewska wurde nach zehn Jahren im Amt als
       Direktorin der renommierten Warschauer Galerie Zacheta entlassen, sie gilt
       als prominentes Opfer des PiS-Kulturkampfs.
       
       Öffentliche Stipendien wurden ausschließlich für nationalistisch gesinnte
       Bewerber:innen vergeben, bestehende Arbeitsverhältnisse mit
       Expert:innen wurden gekündigt. Ihr Fall sei nur einer von vielen,
       erklärt Wróblewska der taz. Auch einige Tage nach der Wahl bleibt die
       55-Jährige skeptisch, ob mit einer neuen Regierung ein anderer Wind durch
       Polens Kulturlandschaft weht: „In keinem der Wahlprogramme habe ich eine
       positive Bezugnahme auf das Kulturleben entdeckt. Außer dem Slogan, dass
       Kultur ‚frei von politischem Druck‘ zu sein habe.“
       
       Für eine progressive Kulturarbeit sei das zu wenig, ergänzt Wróblewska.
       „Für Kunst ist es eine Grundbedingung ihrer Existenz, das schon, aber
       letztendlich laufe es in den polnischen Politikkreisen seit 1989 auf ein
       Verständnis von Kultur hinaus, wonach sie zwar unabhängig funktionieren
       darf, aber billig bleiben solle. Die PiS war nur darauf erpicht, Kultur zu
       finanzieren, die sich für ihre propagandistischen Zwecke einspannen ließ.
       Die Konservativen glaubten, wenn die Museumslandschaft erst in ihrem Sinne
       umgebildet sein würde, zögen die Museen endlich die breite Masse an.“
       
       ## Gesellschaftliche Teilhabe am Kulturleben blieb aus
       
       Damit lagen sie aber falsch, die gesellschaftliche Teilhabe am Kulturleben
       blieb weitgehend aus. Zeitgenössische Kunst bleibt eben doch
       herausfordernder. Hanna Wróblewska lässt sich nicht einschüchtern. Die
       Vizepräsidentin der polnischen Sektion des internationalen Museumsverbands
       ICOM arbeitet nun als Programmleiterin am Museum des Warschauer Ghettos,
       das 2025 eröffnen soll.
       
       Ein Kulturmagazin, das besonders unter seiner feindlichen Übernahme zu
       leiden hatte, war Dialog, als Theaterfachblatt 1956 gegründet und als
       kritische Stimme in der polnischen Medienlandschaft geachtet. Obwohl das
       Kulturministerium im Mai 2023 neue Chefredakteure bestimmte, verweigerte
       die Belegschaft die Zusammenarbeit mit ihnen und sabotierte die Bemühungen,
       indem sie eine Sondernummer des Magazins herausgab, in der es um diverse
       feindliche Übernahmen ging. Damit stellten die Macher:innen von Dialog
       unter Beweis, welche Formen von Widerstand möglich sind.
       
       „Wir haben Berichte über den Zustand von Kulturinstitutionen gesammelt“,
       sagt Joanna Krakowska, Dialog-Redakteurin und Professorin an der Polnischen
       Akademie der Wissenschaften, der taz, „in denen der Grad der Zerstörung
       durch die Kulturpolitik der PiS gemessen wird. Wir haben dokumentiert,
       welche öffentlichen Gelder verschwendet wurden, um konservative
       Kreativprogramme aufzulegen. Nun müssen wir die Kulturinstitutionen wieder
       umbauen, um ihre Arbeit wieder sinnhaft werden zu lassen, um die Autonomie
       der Kunst sicherzustellen und kritische Stimmen hörbar zu machen anstelle
       von Propaganda-Nonsens und Polarisierung.“
       
       Alle Gesprächspartner:innen betonen, wie drängend die Themen sind,
       die die neoliberale Vorgängerregierung unbeachtet ließ: wie Kultur und ihre
       Akteure in der Marktwirtschaft und der harten ökonomischen Realität
       existieren sollen, weshalb Kulturakteure soziale Sicherungssysteme
       benötigen, die der freie Markt nicht garantiert. „Die Behörden müssen
       verstehen, dass gerade die Förderung von experimenteller Kultur einem
       Fortbestand der Demokratie dienlich ist“, erklärt Krakowska.
       
       Auch nach dem Wahlsieg der PO in Polen am vergangenen Wochenende wird
       deutlich: Die vergangenen acht Jahre Regierungszeit der PiS haben die
       Kulturszene und ihre Akteur:innen in ihrer Haltung letztlich bestärkt.
       Kultur ist in Polen gesellschaftlich breit verankert, was auch die neue
       Regierung auf den Prüfstand stellen wird, denn die Kulturszene hat keine
       Angst davor, den dringend nötigen gesellschaftlichen Wandel einzufordern.
       
       Aus dem Englischen von Julian Weber
       
       22 Oct 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Agata Pyzik
       
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