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       # taz.de -- Schwerbehinderte ukrainische Geflüchtete: Regeln blockieren Wohnprojekt
       
       > Eine Wohnheim mit ukrainischen Flüchtlingen soll geschlossen werden, weil
       > es den Standards nicht entspricht. Viele der Bewohner würden gerne
       > bleiben.
       
   IMG Bild: Wollen nicht weg: Bewohner des Wohnheims sonnen sich
       
       Hamburg taz | Yurii fährt los, vom Bürgersteig mitten auf die Straße.
       Seinen Rollstuhl steuert er über einen Hebel, den er mit dem Kopf bewegt.
       Er wird schneller. Als ein Auto kommt, macht ihm das keine Angst, er fährt
       einfach an den Rand auf den Parkstreifen. Auf seinem Rollstuhl prangt ein
       großer Sticker: Ein Herz in den Farben der ukrainischen Nationalfahne. Zum
       Spaß fährt er ein bisschen die Straße hinunter, dann kehrt er um.
       
       Sein Zuhause ist ein weißer Neubau im Hamburger Stadtteil Wandsbek: drei
       Stockwerke, ruhige 30er-Zone. Im Garten sitzen Männer in Rollstühlen, die
       gemeinsam rauchen. Die Stimmung ist entspannt. Vor dem Haus stehen zwei
       Pflegerinnen. Alle sprechen sie auf Russisch miteinander.
       
       Ein schwarzes Auto fährt vor, es steigen zwei junge Männer aus. Auch sie
       begrüßen alle auf russisch, schütteln Hände. Einer der beiden ist Daniel
       Kalinowski. Mit gerade einmal 20 Jahren ist er Geschäftsführer der
       Pflegefirma Alster Care, die die 30 Ukrainer*innen mit schwerer
       körperlicher Behinderung betreut, die hier in der Dernauer Straße leben.
       
       Es gibt noch zwei weitere Standorte in Hamburg, an denen Alster Care
       ukrainische [1][Schwerbehinderte] betreut. Außerdem betreiben Kalinowksi
       und seine Familie mehrere Einrichtungen mit demselben Konzept in Hannover.
       Die Familie hat dafür neben Alster Care mehrere weitere Pflegefirmen.
       Insgesamt sind es ungefähr 200 ukrainische Schwerbehinderte, die in den
       Einrichtungen leben.
       
       ## Platz gemacht für Soldaten
       
       Kalinowskis ganze Familie ist schon seit Generationen in der Pflege tätig.
       Sie haben an vielen Orten gelebt: Polen, Kasachstan, jetzt Deutschland. Der
       Krieg hat Kalinowski erschüttert, denn ein Teil seiner Familie kommt aus
       der Ukraine. Er wollte helfen. So kam ihm die Idee, Pflegeeinrichtungen für
       ukrainische Schwerbehinderte in Hannover und Hamburg zu eröffnen.
       
       „Mit Ausbruch des Krieges verschlechterte sich die Versorgungslage für
       Menschen mit körperlichen Einschränkungen“, erzählt er. „Teilweise wurden
       sie sogar aus Krankenhäusern entlassen, weil ihre Plätze für Soldaten
       gebraucht wurden.“ Die Nachfrage sei sehr groß gewesen, nicht allen konnten
       sie einen Platz anbieten. Im April bezog die erste Gruppe an
       Schwerbehinderten die Einrichtung in Hamburg, im Juli kamen weitere nach.
       
       Das ist seine Version der Geschichte. Ganna Preine-Kosach, Co-Vorsitzende
       des Vereins Ukrainian Future, hat eine andere: Ihrer Meinung nach wollen
       sich Alster Care und die Kalinowskis nur an dem Leid ukrainischer
       Schwerbehinderter bereichern, die sie mit falschen Versprechungen nach
       Deutschland lockten. Ihr Verein wurde schon im Mai von einer ehemaligen
       Bewohnerin der Einrichtung kontaktiert, die sich über die Unterbringung
       beschwerte.
       
       Preine-Kosach machte sich selbst ein Bild und fuhr dafür mehrere Male in
       die Einrichtung. Sie ist davon überzeugt, dass die aktuelle Wohnsituation
       unwürdig und gefährlich für die Bewohner*innen sei. Sie arbeitet nun
       mit der Stadt zusammen, um eine alternative Unterbringung zu organisieren.
       
       Dass das Haus in der Dernauer Straße, welches als gewöhnliches Wohnhaus mit
       einzelnen Wohnungen gebaut wurde, [2][nicht für Behinderte geeignet] sei,
       ist auch die Ansicht der Sozialbehörde und des Bezirksamts Wandsbek. In
       einer gemeinsamen Stellungnahme erklären sie, dass „die Vorgaben zur
       Barrierefreiheit sowie zu Art und Größe der Räume in keiner Weise erfüllt“
       würden.
       
       Die Einrichtung sei „um mindestens das Doppelte“ überbelegt, eine
       ausreichende Pflege der überwiegend sehr schwer Pflegebedürftigen sei
       bereits baulich nicht zu gewährleisten. Dazu kämen „schwere Pflegemängel
       des ambulanten Pflegedienstes, so dass diesem die Tätigkeit untersagt
       werden musste“.
       
       ## Kritik wegen angeblicher Pflegemängel
       
       Die schweren Pflegemängel betont auch Ganna Preine-Kosach: Sie erzählt,
       dass die Bewohner*innen seit ihrer Ankunft im April kaum ärztliche
       Betreuung erhalten hätten und viele an Liegewunden litten, die kaum
       behandelt würden. Ein Bewohner mit Darmproblemen sei unterernährt gewesen,
       weil ihm normales Essen gegeben worden sei, welches er nicht verdauen
       konnte. Zudem habe es sogar einen Todesfall gegeben, für den die
       Verantwortung bis heute ungeklärt ist.
       
       Die Wohngemeinschaft in Wandsbek soll aus diesen Gründen geschlossen und
       die Bewohner*innen sollen umgesiedelt werden. Nach einem Rechtsstreit mit
       den Behörden hat sich Alster Care dazu verpflichtet, das Haus bis zum 31.
       Oktober zu räumen. Wohin es für die Bewohner*innen gehen soll, ist
       unklar. Einige sind bereits freiwillig in eine andere von der Stadt Hamburg
       organisierte Unterbringung gezogen. Von den ursprünglich 45
       Bewohner*innen sind noch etwa 30 übrig.
       
       In den vergangenen Monaten haben diverse Akteure das Haus besucht:
       Bezirksamt, Sozialbehörde, Pflegeaufsicht, das Ukrainische Generalkonsulat,
       ein unabhängiger Pflegedienst, und der Verein Ukrainian Future. Sie haben
       mit den Bewohner*innen gesprochen, das Haus inspiziert, sich alles ganz
       genau angeschaut. Dabei scheint es kein geregeltes Verfahren oder ein
       Orientierungsmodell gegeben zu haben. Vergleichbare Wohneinrichtungen für
       ukrainische Schwerbehinderte gibt es in Hamburg nicht.
       
       Das Ukrainische Generalkonsulat konnte zwar bestätigen, dass weitere
       Geflüchtete mit schwerer Behinderung in Norddeutschland leben. Für diese
       gebe es jedoch keine speziellen Gemeinschaftseinrichtungen, wie die
       Kalinowskis sie betreiben.
       
       Das Ergebnis der Inspektionen war: So, wie ihr hier lebt, geht es nicht
       weiter. Die Bewohner*innen hätten Grund misstrauisch zu sein, wenn
       Fremde in ihr Haus kommen. Trotzdem sind sie offen und gesprächsbereit.
       
       Anton Yaroshenko ist einer von ihnen. Der 38-Jährige lebt seit April in der
       Dernauer Straße. Ursprünglich kommt er aus der ukrainischen Stadt Dnipro.
       15 Jahre lang arbeitete er in einem Logistikbetrieb. Dann kam der Unfall:
       Beim Tauchen erlitt Yaroshenko so schwere Verletzungen, dass er seitdem
       nicht mehr laufen kann. Dennoch besteht für ihn die Chance auf Heilung. In
       der Ukraine hat er dafür eine Reha gemacht. Als der Krieg ausbrach, musste
       die Klinik jedoch schließen und er wurde entlassen.
       
       Während er erzählt, schaut Yaroshenko aus seinem medizinischen Pflegebett
       auf einen großen Fernsehbildschirm. Es sieht nach einem Musical aus, für
       das Gespräch hat er den Ton aber ausgeschaltet. Das Bett neben ihm ist
       bereits leer, sein Mitbewohner ist ausgezogen.
       
       Fast alle Zimmer im Haus werden von mehreren Personen geteilt, was die
       Bewohner*innen jedoch nicht zu stören scheint. Über Yaroshenkos Bett
       hängen kleine blau-gelbe Babysocken. Es sind die ersten Socken seiner
       Tochter. Inzwischen ist sie ein Teenager. Seit dem Krieg lebt sie in Polen.
       
       Die Flucht sei anstrengend gewesen, erzählt Yaroshenko, aber sie habe sich
       gelohnt. Hier könne er seine Heilung endlich fortsetzen und habe dabei
       schon einige Fortschritte gemacht. Seine Darstellung widerspricht den
       Vorwürfen der Pflegeaufsicht, die gravierende Pflegemängel in der
       Einrichtung feststellte.
       
       Auch mental muss Yaroshenko immer noch lernen, mit seinem Unfall umzugehen.
       „Hier habe ich Freunde gefunden, die schon lange im Rollstuhl leben und mir
       Ratschläge geben können. Wir haben alle ähnliche Erfahrungen gemacht: Mit
       unseren körperlichen Behinderungen und mit dem Krieg.“ Die Hausgemeinschaft
       sei für ihn wie eine Familie. Ob er ein Foto machen wolle? Nein, winkt
       Yaroshenko ab, lieber nicht.
       
       In der Einfahrt vor dem Haus steht Anatolii Burian mit seinem Rollstuhl, um
       ihn herum ein paar weitere Bewohner. „Wir lieben es hier und wollen nicht
       weg!“, sagt er energisch. Die anderen nicken zustimmend. Der 36-jährige
       Burian hat bis zum Krieg in Kyiv gelebt. Erst wollte er [3][trotz des
       Krieges] bleiben.
       
       „Aber als Kyiv bombardiert wurde, habe ich verstanden, dass ich wegmuss.“
       Zunächst flüchtete er nach Österreich. Dann wurde er über Facebook auf die
       Einrichtung aufmerksam. Er suchte seine Papiere zusammen und wurde in einem
       behindertengerechten Bus von Freiwilligen hergebracht.
       
       Ähnlich erging es dem 45-jährigen Yurii Ostrovskiy. Er flüchtete nach
       Ausbruch des Krieges erst nach Kroatien und lebte dort in einem Altenheim.
       Das sei schrecklich gewesen. Er habe sich eingesperrt gefühlt und war sehr
       einsam. Als er das Angebot sah, gemeinsam mit anderen Ukrainer*innen in
       einer Wohngemeinschaft in Deutschland leben zu können, war er wie besessen
       von der Idee.
       
       Eigenständig und privat finanziert mietete er sich ein behindertengerechtes
       Auto und einen Fahrer, um sich selbst von Kroatien nach Deutschland zu
       transportieren. „Ich habe viel da rein investiert, hier leben zu können,
       aber es hat sich gelohnt“, sagt er. „Hier fühle ich mich frei. Ich kann
       spazieren oder einkaufen fahren, wann ich will, und die Menschen hier sind
       wie meine Familie.“ Auch er möchte die Einrichtung auf keinen Fall
       verlassen.
       
       „Den Behörden ist bewusst, dass die betroffenen Menschen besonderen Wert
       auf das gemeinsame Zusammenleben mit ihren Landsleuten aus der Ukraine
       legen“, sagen Bezirksamt und Sozialbehörde in ihrer Stellungnahme. Deshalb
       hätten sie das Gespräch mit den Betroffenen, ihren Bevollmächtigten, dem
       Ukrainischen Generalkonsulat und dem ambulanten Pflegedienst gesucht, um
       eine Aufnahme als Gruppe in stationärer Pflege zu organisieren.
       
       Das Ukrainische Generalkonsulat bestätigt auf taz-Nachfrage, dass es eng
       und konstruktiv mit der Sozialbehörde zusammenarbeite und die Rechte der
       ukrainischen Staatsbürger*innen durch das behördliche Handeln und die
       Schließung der Einrichtung gewahrt sehe.
       
       So nehmen das aber jedenfalls nicht alle Betroffenen wahr. „Fast jede Woche
       sind Leute hergekommen und haben uns befragt. Ich habe immer gesagt, dass
       ich es hier liebe und hier bleiben möchte“, sagt Yurii Ostrovskiy. Während
       des Gesprächs hat es angefangen zu regnen, deshalb ist der von der Einfahrt
       zurück in das Haus gefahren und steht jetzt im Flur. Neben ihm geht eine
       steile Treppe mitten durch das Haus hinab, gegenüber gibt es aber auch
       einen Fahrstuhl, den die Bewohner*innen mit ihren Rollstühlen nutzen
       können.
       
       Ostrovskiy ist es wichtig zu sagen, dass er sich von den Behörden nicht
       gehört fühlt. Weitere Bewohner*innen bestätigen seine Ansicht. Ihre
       Version der Geschichte steht jener der Behörden und des [4][Vereins
       Ukrainian Future] entgegen. Möglicherweise wollen nur diejenigen Personen
       mit Journalist*innen sprechen, die zufrieden sind.
       
       Eine anonyme Quelle gibt an, dass es auch unzufriedene Bewohner*innen
       gebe, die Angst hätten, offen über ihre Situation zu sprechen. Der taz
       liegt ein Screenshot von einem Chatverlauf eines Bewohners vor, in dem
       dieser schreibt, dass er gerne anderswohin ziehen würde und das
       Pflegepersonal in der Einrichtung sich übergriffig verhalte.
       
       ## Nicht schwarz-weiß
       
       Um die Lage zu beruhigen, ist in den letzten Wochen auch ein zweiter,
       unabhängiger Pflegedienst in die Dernauer Straße gekommen. „Das Konzept der
       Einrichtung hier ist in Hamburg so nicht vorgesehen“, sagt dessen Leiterin
       beim Rundgang durch das Haus. Die Beziehung zwischen Bewohner*innen und
       Pflegenden sei sehr eng und mute schon fast wie eine private Pflege durch
       Angehörige an – dabei handele es sich um einen professionellen
       Pflegedienst.“
       
       Die Situation sei schwierig und nicht schwarz-weiß. „Objektiv muss man
       sagen, dass hier die gesetzlichen Standards einfach nicht erfüllt werden“,
       sagt die Pflegedienstleiterin. „Wir sehen an einigen Punkten auch keine
       Möglichkeit, wie diese Einrichtung mit dem Gesetz vereinbar gemacht werden
       kann.“ Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Idee der Einrichtung
       schlecht sei.
       
       Kalinowksi setzt sich dafür ein, dass die Menschen aus den Hamburger
       Standorten nicht nur in von der Stadt angebotene Einrichtungen, sondern
       auch in [5][Alster-Care-Häuser] in Hannover ziehen können. Mit diesen gebe
       keine Probleme. Eine entsprechende taz-Anfrage beim Landesamt für Soziales
       in Niedersachsen blieb unbeantwortet. Formal ist ein solcher Transfer wegen
       der Wohnsitzauflage für Geflüchtete nicht möglich. Diese könnte jedoch
       theoretisch aufgehoben werden.
       
       Die Behörde sagt dazu nur: „Dem Bezirksamt ist der Wunsch einer größeren
       Gruppe der Schutzsuchenden bekannt, nach dem 31.10.2023 in eine
       vergleichbare Wohneinrichtung nach Hannover umzuziehen.“ Unklar bleibt, wie
       sie sich zu diesem Wunsch verhält.
       
       Die Leiterin des externen Pflegedienstes muss jetzt schnell wieder los. Die
       Männer vor dem Haus verabschieden sie freundlich und reden gleich weiter
       davon, dass sie auf keinen Fall ausziehen wollen. Auch Anton Yaroshenko
       kommt jetzt raus. Er möchte doch noch gerne fotografiert werden. Vielleicht
       wird er das Bild seiner Tochter schicken.
       
       24 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] https://ukrainianfuture.org/
   DIR [5] https://www.alster.care/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marta Ahmedov
       
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