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       # taz.de -- Feinde und Freunde der Demokratie: Nicht durchdrehen
       
       > Doch Demokratie ist keine Werbekampagne. Angesichts der Krisen, die sie
       > erschüttern, ist es die größte Aufgabe, dem Hass zu trotzen, der uns
       > einlädt.
       
   IMG Bild: Erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Salman Rushdie in der Frankfurter Paulskirche
       
       „Das ist ein Angriff auf die Demokratie!“ ist so ein Standardsatz dieser
       Tage. Man hört ihn so oft, dass der Angriff selbst kaum mehr eine
       Bedrohung, sondern eher eine Gewohnheit geworden ist, man schaut nur noch,
       von wem er denn dieses Mal kommt.
       
       Bei der Frankfurter Buchmesse wurde deutlich, wie sehr die Demokratie und
       vor allem jene Menschen, die Freiheitsrechte in Anspruch nehmen, gefährdet
       sind. In der Paulskirche erhielt dieses Jahr der Schriftsteller [1][Salman
       Rushdie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels].
       
       Vor der Kirche ein erhöhtes Sicherheitsaufkommen. Gegen Rushdie war vor
       über dreißig Jahren eine Fatwa ausgesprochen worden, es ist kaum ein Jahr
       her, dass ein Attentäter versuchte, während eines Auftritts auf die Bühne
       zu stürmen und ihm das Leben zu nehmen, mit dem Messer. Rushdie hat
       überlebt, das rechte Auge bleibt beschädigt, doch sein freier Geist ist ihm
       und uns geblieben. Auch sein Humor. Als es unter dem Publikum plötzlich
       Unruhen gab, blickte er skeptisch in den Raum, fragte, ob alles okay sei,
       alle beruhigten ihn, die Person habe bereits Hilfe erhalten. Rushdie fuhr
       mit seiner Rede fort.
       
       Spürbar wurden die abstrakten Feinde der Demokratie und ihre Bedeutung
       auch, als der slowenische Philosoph Slavoj Žižek bei der Eröffnungsfeier
       der Buchmesse eine Rede hielt, die heftige Diskussionen auslöste. Am
       darauffolgenden Tag hatte ich ihn als Gast auf der Bühne und sah, wie sich
       mit ihm neben dem Publikum der Saal mit Sicherheitskräften füllte. Am Tag
       darauf hatte ich ein Gespräch mit Michail Chodorkowski, auch hier die
       erhöhte Sicherheit, die Fragen nach Vorkehrungen, die Bewegungsfreiheit,
       die es für ihn nicht einfach gibt. Dieses Jahr war besonders spürbar,
       welcher Preis für das freie Wort zu bezahlen ist. Rushdie beschrieb es so,
       dass in ihm nach wie vor das ruhige Kind lebte, das er einst war, aber sein
       Leben hatte eine andere Richtung für ihn vorgesehen.
       
       ## Was folgt aus der aufgeheizten Stimmung?
       
       Tun wir genug gegen die Radikalisierungsprozesse, die mit der Art und Weise
       beginnen, mit denen wir über Kriege und Krisen reden? Meist ist abstrakt
       von „Feinden der Demokratie“ und den Angriffen auf Demokratie die Rede,
       machen wir uns und anderen diskursiv deutlich genug, wann diese beginnen?
       Machen wir derzeit deutlich genug, wann jemand mit seinem diskursiven Feuer
       auch die gewaltbereiten Kräfte zum Zündeln motiviert?
       
       Derzeit ist eher zu sehen, wie selbst die Geschichte der Entstehung des
       Asylkompromisses, die eine äußerst gewaltvolle war, die über den Umweg
       Solingen, Hoyerswerda und Rostock ging, von Politikern heute als gutes
       Beispiel für Gesetzesänderungen im Bereich der Migration angeführt wird.
       
       Was bedeutet die aufgeheizte Stimmung im Konkreten für jene, die von ihren
       demokratischen Freiheitsrechten öffentlich Gebrauch machen wollen? Braucht
       es in naher Zukunft für alle gesellschaftlichen Themen, die öffentlich
       verhandelt werden sollen, Personenschutz für die Protagonisten? Und wer
       wird sich dem Diskurs zu diesem Preis auf Dauer stellen? Was ist Freunden
       der Demokratie, die für Meinungsäußerungen im Netz mehr als vierundzwanzig
       Stunden brauchen, weil sie über die Konsequenzen nachdenken, weil irgendwo
       am Ende der Instakacheln und Tweets doch Menschen sitzen, die Botschaften
       empfangen, und man mit plakativen Statements der Sache nicht gerecht werden
       kann.
       
       Seit den brutalen Angriffen der Hamas auf Israel und den barbarischen Akten
       gegen die Zivilbevölkerung tobt der Krieg auch im Netz. Nicht nur
       terrorisiert die Hamas die Menschen in Israel, sie verbreitet [2][ihren
       Terror über das Netz weltweit]. Wer ins Netz geht, erhält die Bilder des
       Terrors ohne Filter, Folge ist einerseits eine Abstumpfung, andererseits
       eine Aufheizung. Jetzt fordern viele im Netz voneinander, sich umgehend zu
       positionieren. Hinzu kommen die Bilder der leidenden Menschen im
       Gazastreifen. Es ist ein Abgrund, in den wir gerade hilflos blicken; den
       Weg aus der aktuellen Situation kennt im Moment niemand.
       
       ## Die alte Normalität gibt es nicht mehr
       
       Als die Pandemie handhabbarer wurde, dachten alle, es wird eine Rückkehr
       zur Normalität geben, doch was kam, war der Krieg in der Ukraine. Jetzt
       Israel. Es gibt die alte Normalität nicht mehr, und wir müssen lernen
       angesichts des Daueralarms, von den Kriegsnachrichten bis zur
       Klimakatastrophe, die Ruhe zu bewahren – und tätig zu bleiben. Auch geistig
       tätig.
       
       Ich habe [3][mit der Rede von Salman Rushdie] in der Paulskirche wieder neu
       verstanden, dass jeder Krieg im Kopf beginnt. Rushdies Feinde, seine
       Gegner, haben alles gegeben, damit an diesem Tag ein Mann vor uns steht,
       der nur noch Hass, Verzweiflung oder Galle sprühenden Zynismus kennt.
       Stattdessen stand da einer, der seinen Humor behalten hat, an Bildung als
       Ausweg aus der Barbarei glaubt, der nach wie vor für jene Werte kämpft, die
       man als zivilisatorische Errungenschaft beschreibt. Es ist die größte
       Aufgabe, dem Hass, der uns einlädt, zu trotzen.
       
       Als ich Michail Chodorkowski fragte, wie er es im russischen Gefängnis auch
       angesichts der brutalen Strafe geschafft hat, klar zu bleiben, sagte er:
       „Ich habe gesagt, das gehört jetzt auch zu deinem Leben.“ Du musst damit
       umgehen, ohne zu überdrehen, ohne verrückt zu werden, heißt das. Es gibt in
       dieser Zeit unzählige Gründe, durchzudrehen. Die Gewalt weltweit, aber auch
       auf deutschen Straßen. Die Angriffe hier auf Synagogen. Viele hatten es
       sich zu bequem gemacht im pseudogewichtigen Dreschen von Phrasen, haben das
       „Nie wieder!“ ebenso überbeansprucht wie sonstige Schlagworte des
       Aktivismus.
       
       Doch Demokratie ist keine Werbekampagne. Im Gegenteil, es braucht jetzt den
       denkenden, fühlenden, handelnden Teil der Zivilgesellschaft. Es braucht
       jene, die sich nicht gegenseitig Schlagworte an den Kopf werfen, sondern
       gemeinsam nach Fragen, Antworten und vielleicht Lösungen suchen. Am besten
       auch noch manchmal mit Humor. Trotz allem.
       
       25 Oct 2023
       
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