URI: 
       # taz.de -- Mahnwache für tote Radfahrer: „Als letzte Erinnerung“
       
       > Aller ums Leben gekommenen Radfahrenden in Berlin wird mit einem
       > Geisterrad gedacht. Am Freitag und Samstag gibt es in Berlin Mahnwachen.
       
   IMG Bild: Rund 180 Geisterräder hat der ADFC seit 2009 in Berlin aufgestellt
       
       taz: Frau Grittner, nach welchen Kriterien stellt der ADFC Geisterräder
       auf? 
       
       Susanne Grittner: Wir machen das bei jedem Radfahrenden, der bei einem
       Verkehrsunfall gestorben ist oder so schwer verletzt wurde, dass sie oder
       er später gestorben ist. Egal ob es ein Selbstverschulden war oder ein
       Fremdverschulden. Seit 2009 haben wir in Berlin ungefähr 180 Geisterräder
       aufgestellt, nur in ganz wenigen Fällen geschieht das nicht. Bei einem
       Todesfall an der Autobahn konnten wir das zum Beispiel nicht machen, weil
       man dort nicht hinkommt.
       
       Wie kam es zu dieser Idee? 
       
       Die Geschichte mit den Geisterrädern kommt aus den USA. Weiße Fahrräder,
       die sogenannten Ghostbikes, werden dort schon lange aufgestellt. 2007 hat
       ein Aktivist zu uns gesagt: Hey, das müsst ihr auch machen. Wir hatten
       zunächst Bedenken, in Berlin gab es in den 90ern manchmal bis zu 23
       Fahrradtote im Jahr.
       
       Deutlich mehr als heute. 
       
       Viel mehr. Wie sieht das denn aus, wenn überall in der Stadt weiße Räder
       stehen, haben wir uns damals gefragt. Das macht ja auch Angst.
       
       Ist das nicht gerade die Intention der Aktion? 
       
       Nein, [1][Geisterräder sollen mahnen und erinnern]. Die Botschaft ist an
       alle gerichtet: vorsichtig im Verkehr zu sein. Zu vermeiden, dass jemand zu
       Schaden kommt. Es sind aber auch Erinnerungsorte für Ersthelfende, Zeugen
       und Angehörige. Vor allem für Familienangehörige ist das ein ganz wichtiger
       Ort.
       
       Am Freitag wird in Friedrichshagen ein Geisterrad für eine 85-jährige
       Radfahrerin aufgestellt. Der tödliche Unfall geschah am 20. Oktober.
       Geschieht das immer so schnell? 
       
       Früher haben wir die Räder erst im Frühjahr nach dem Unfall aufgestellt.
       Das hing damit zusammen, dass die Polizei zu dem Zeitpunkt ihre
       Unfallstatistik veröffentlicht hat. 2016 haben wir das geändert. Wir
       versuchen das jetzt so schnell wie möglich nach dem Unfall zu machen, was
       eine große Herausforderung bedeutet.
       
       Wie geht es vonstatten? 
       
       Sobald uns die Pressemitteilung der Polizei erreicht, stelle ich ein
       kleines Team zusammen. Dann geht es los: Haben wir ein Rad fertig? Wenn
       nicht, müssen wir ganz schnell eins fertig machen. Das ist schon aufwändig.
       Wir machen das ja alles ehrenamtlich. Es dauert ein, zwei Stunden, das Rad
       mit weißer Farbe einzusprühen. Vorher bauen wir alle Teile ab, die
       irgendwie verleiten können, das Rad zu klauen. Das passiert leider immer
       mal wieder.
       
       Wer macht denn so was? 
       
       Möglicherweise gibt es Menschen, die dieses Symbol des Todes im
       Alltagsverkehr nicht sehen wollen. Wir haben sogar einmal ein geklautes Rad
       wiedergefunden, mit der Witwe nachgeweißt und wieder aufgestellt. Unsere
       Geisterräder sind eigentlich nicht mehr fahrbar. Wir bauen alles ab: die
       Schaltung, die Bremsen, Gepäckträger, Schutzbleche. Reifen, Lenker, Sattel
       und Kette bleiben natürlich. Es soll ja noch nach Fahrrad aussehen und eine
       gewisse Würde haben.
       
       Was passiert dann? 
       
       Das geweißte Rad wird mit einem Lastenrad zum Unfallort gefahren, sozusagen
       als letzte Reminiszenz. Wir machen das seit ein paar Jahren immer als
       Demonstration. Wir starten beim ADFC, das ist wie eine kleine Prozession.
       Am Unfallort stellen wir das Geisterrad im Rahmen einer Mahnwache zusammen
       mit Changing Cities auf. Wenn es sich um einen Unfall mit einem abbiegenden
       Lkw-Fahrer handelte, fahren wir danach zum Bundesverkehrsministerium zu
       einer Kundgebung.
       
       Warum das? 
       
       Eine der Hauptunfallursachen für tödliche und schwere Verletzungen
       Radfahrender, aber auch Fußgänger ist das Abbiegeverhalten. Da muss sich
       etwas ändern. Abbiegeassistenten für Lkw, die bei einer Kollision einen
       Notstopp auslösen, müssen Pflicht werden. Das Modul kostet nicht viel. Für
       1.500 Euro kann man ein Menschenleben retten. Aber da gibt es keine
       Gesetzesvorschrift, wir leisten uns ein Verkehrssystem, das tödlich ist. Im
       Übrigen müssen wir, die Gesellschaft, auch die Lkw-Fahrer schützen. Einige
       sind nach so einem tödlichen Unfall gebrochene Menschen. Ich habe das bei
       [2][Gerichtsverfahren, die ich für den ADFC] beobachte, mitbekommen.
       
       Wie lange bleiben die Geisterräder stehen? 
       
       Standard ist, dass sie nach dem Totensonntag des Unfallfolgejahres
       eingesammelt werden. Manche Angehörige sagen aber auch, wir wollen warten
       [3][bis zum Gerichtsprozess.] Weil dann für sie eine Art Schlussstrich ist.
       Wir haben jetzt gerade in Berlin drei Kinderräder, wo die Eltern möchten,
       dass die Räder stehen bleiben. Solange die Eltern das wünschen, machen wir
       das. Wir haben die Kinderräder teilweise auch schon nachgeweißt. In einem
       Fall macht das sogar die Mutter selber.
       
       Haben die Gerichtsprozesse um diese Kinder schon stattgefunden? 
       
       Zwei davon sind zu Ende. Das eine Kind ist in Spandau um Leben gekommen,
       der Constantin. Die Mutter ist sehr aktiv geworden beim Thema
       Verkehrssicherheit. Im anderen Fall handelte es sich um das Mädchen, das in
       Rummelsburg von der Straßenbahn überrollt wurde und bei der Bergungsaktion
       um Lebens kam. Das dritte Geisterrad steht an der Wichertstraße. Dort ist
       vor einem Jahr ein Junge ums Leben gekommen.
       
       Sie erfahren viel über die Opfer und den Unfallhergang, wie nahe lassen Sie
       diese Eindrücke an sich heran? 
       
       Vor allem das mit den Kindern sind krasse Erfahrungen, eigentlich schwer
       erträglich. Wir machen ja auch Aktionen für ums Leben gekommene
       Fußgänger:innen. Aktive von uns waren auch in dem Prozess gegen den
       Autofahrer, der die elfjährige Louisa überfahren hat. Der Fahrer hat nach
       mehr als 20 Sekunden roter Ampel die Fußgängerfurt überfahren, das Kind
       hatte Grün!
       
       Der Fahrer hat gerade eine Bewährungsstrafe bekommen und darf in einem
       halben Jahr wieder eine Fahrerlaubnis beantragen. Haben Sie dazu eine
       Meinung? 
       
       Egal, wie hoch die Strafe ist, ein verlorenes Menschenleben ist durch
       nichts wiedergutzumachen.
       
       Warum engagieren Sie sich auf diesem Gebiet? 
       
       Verkehrssicherheit ist ein wichtiges Thema, gerade im Zuge der
       Mobilitätswende. Wenn wir mehr Radverkehr, mehr Fußverkehr und mehr ÖPNV
       haben wollen, ist es umso wichtiger, dass die schwächsten
       Verkehrsteilnehmer:innen besser geschützt werden.
       
       26 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ride-of-Silence-des-ADFC/!5855893
   DIR [2] /Konsequenzen-aus-schweren-Unfaellen/!5763672
   DIR [3] /Radsport-in-Berlin/!5947817
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Plutonia Plarre
       
       ## TAGS
       
   DIR Verkehrsunfälle
   DIR ADFC
   DIR Kolumne Starke Gefühle
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Verkehrsunfälle in Berlin 2023: Mehr ist immer noch weniger
       
       Die Zahl der Verkehrsunfälle ist 2023 wieder gestiegen, liegt aber unter
       dem Vor-Pandemie-Niveau. Mit 33 erreicht die Zahl der Getöteten ein Tief.
       
   DIR Getötete Radfahrer: Gefährliches Pflaster
       
       Schon 14 tote Radfahrende in diesem Jahr – das hohe Alter einiger
       Unfallopfer fällt auf. Der ADFC fordert eine Verbesserung der
       Infrastruktur.
       
   DIR Autoverkehr muss beschränkt werden: Fetisch, der Gerechtigkeit sticht
       
       Autos sind Waffen. Das zeigt der tödliche Unfall einer 11-jährigen
       Fußgängerin – und das milde Urteil für den Fahrer.