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       # taz.de -- „Unsound“-Festival in Krakau: Beim Splongeflux stockt der Atem
       
       > „Unsound“ widmet sich Dada und KI: Das Elektronik-Festival in Krakau
       > bleibt interessiert an Neuem. Eine Bilanz der Ausgabe 2023.
       
   IMG Bild: Die koreanische Cellistin Okkyung Lee beim Konzert in Krakau
       
       Gekonnt bewegt Beata Kędzia-Sowa ihre Füße über das quadratische Podest. Es
       steht, umgeben von einer dichtgedrängten Menschenmenge, mitten in einem
       Krakauer Veranstaltungssaal. Metallische Klänge erfüllen den Raum. Langsam
       beginnt dieser Klickrhythmus – erzeugt von Metallplatten an den Schuhsohlen
       der polnischen Stepptänzerin – und wird allmählich von Synthesizerklängen
       überlagert, bis aller Sound elektronisch dominiert wird.
       
       Das Podest ist mit dem Mischpult des ukrainischen Komponisten Heinali
       verkabelt, er behält den Rhythmus der Tänzerin bei und legt auf dieser
       Basis sein eigenes polyphones Synth-Werk über die metallischen
       Steptanzschritte. Heinali veröffentlichte 2023 die Single „Kyiv Air Raid
       Alarm“ mit dröhnenden Sirenen, die vor russischen Luftangriffen warnen,
       sowie das hochgelobte Album „Kyiv Eternal“ mit Geräuschen aus dem Kyjiw der
       Vorkriegszeit. Er mischt in seinen Kompositionen mit Vorliebe historische
       Instrumente und zeitgenössische elektronische Klänge, wodurch eine
       eigenwillige, überzeitliche Soundlandschaft entsteht.
       
       ## Futuristische Synthsounds
       
       Bei der mit „Synthtap“ betitelten Performance der Tänzerin und des
       Soundkünstlers handelt es sich um eine der zahlreichen „In(ter)ventions“
       (ein Wortspiel aus Intervention und Erfindung) mit dadaistischen Referenzen
       der diesjährigen Ausgabe des [1][Unsound-Festivals für experimentelle und
       elektronische Musik in Krakau.] Unorthodoxe Künstler:innen wie Heinali
       aus verschiedenen Weltgegenden und Genres sind für eine lange Oktoberwoche
       in Krakau unter dem Motto „DADA“ zusammengekommen, um neueste Werke zu
       präsentieren.
       
       Künstlerisch geleitet wurde die Ausgabe auch 2023 vom Australier Mat
       Schulz, der das Festival vor zwanzig Jahren mitbegründete, und erstmalig
       einer künstlichen Intelligenz namens „AIAD“ (Artificially Intelligent
       Artistic Director). Die KI geht mit DADA eine Allianz ein. Referenzen auf
       inspirierende Künstler:innen aus der Vergangenheit und futuristische
       Synthsounds mischen sich. Passend dazu verfasst „AIAD“ im Laufe des
       Festivals ein „unendliches Manifest“, das – ganz im Sinne des
       Ur-Dada-Manifests von 1918 – mal mehr und mal weniger Sinn ergibt und bei
       den Konzerten immer wieder auf Leinwände projiziert und in
       Social-Media-Kanälen gepostet wird.
       
       ## Unsound bedeutet auch „gestört“
       
       Das KI-DADA-Motto zieht sich durch das Rahmenprogramm und [2][die
       Konzeption des Festivals], es taucht aber auch in den musikalischen
       Darbietungen selbst auf: Die südkoreanische Cellistin Okkyung Lee begleitet
       etwa im Rahmen des Konzerts „Blarptangle“ – Titel für die musikalischen
       Veranstaltungen wurden ebenfalls von AIAD bestimmt – im riesigen Saal des
       „Kino Kijów“ (Kino Kyjiw) mit ihren virtuosen, energetischen
       Improvisationen Filmklassiker des dadaistischen Stummfilms, wie etwa Hans
       Richters „Vormittagsspuk“.
       
       Schon im Festivaltitel [3][„Unsound“ steckt ein Wortspiel: Einerseits
       bedeutet es die Negation von Sound, „unsound“ heißt auf Englisch aber
       zugleich auch „unseriös“ oder „gestört“].
       
       ## So voll, dass das Atmen schwerfällt
       
       Was das Festival so außergewöhnlich macht, ist der Spagat, den es sowohl
       zwischen unbekannten und prominenten als auch zwischen lokalen und globalen
       Künstler:innen schafft. So eröffnete den Abendslot „Splongeflux“ im
       Theater Łaźnia Nowa der Warschauer Komponist Robert Piotrowicz mit der
       Premiere seines neuen, dissonanten und ziemlich apokalyptisch anmutenden
       Synth-Orgelwerks „Afterlife“. Beendet wurde er durch das legendäre
       britische Elektronikduo Autechre, für viele Besucher*innen der
       Höhepunkt des Festivals.
       
       Der Veranstaltungssaal ist während des Konzerts von Autechre komplett
       verdunkelt. Er ist derart voll, dass das Atmen schwerfällt. „Unsound“ ist
       ein achttägiger Musikmarathon, der seinem Anspruch, „global-minded“ zu
       sein, mehr als gerecht wird, denn es treten tatsächlich Künstler:innen
       aus aller Welt in Aktion.
       
       ## Morgenlatte im Hörsaal
       
       Aber auch in anderer Hinsicht ist „Unsound“ transgressiv: Das Festival
       versteht sich als explizit genreübergreifend, die musikalische Palette
       reicht von Ambient bis Noise, von Hardcore-Techno bis Folk und versucht
       dabei gezielt, Künstler:innen in Konstellationen zu vereinen, die
       herkömmliche Zuschreibungen sprengen.
       
       Dazu passen exzentrische Formate: Die musikalische Morgensession, „Gorning
       Mlory“ (die DADA-Interpretation von „Morning glory“, Morgenlatte) eröffnete
       im steil abfallenden medizinischen Hörsaal der Krakauer Universität die in
       Berlin lebende australische Jazzgitarristin Julia Reidy mit Klängen
       ihrer besonders gestimmten E-Gitarre und melancholischer Auto-Tune-Stimme.
       Reidy nennt sich nun auch Jules.
       
       Neben dem Musikprogramm bietet Unsound auch Diskussionen, Workshops und
       eine Messe an, auf der polnische Indielabels ihr Programm dem
       internationalen Publikum vorstellen. Neu war dieses Jahr eine „Unsound
       Fashion Show“, auf der Designs der DADA-Kollektion mit
       Repräsentant:innen der Musikszene und des Festivals als Models gezeigt
       wurden. Der Eintritt hierfür war allerdings nicht vom Festivalpass gedeckt
       – zur Überraschung mancher musste hier wie auch für einige andere
       Veranstaltungen extra bezahlt werden.
       
       ## Piernikowski rappt einfach nicht
       
       Gespannt versammelt sich am späten Abend des sechsten Festivaltages das
       Publikum für die mit „Zigglewump“ betitelte „Club“-Nacht am alternativen
       Veranstaltungsort Kamienna 12, um die mysteriöse neue Show „Beyond the Echo
       of Time“ der [4][polnischen Rap-Ikone Piernikowski] zu erleben. Die rohen
       Synth-Klänge zu klassischen HipHop-Beats haben den typischen,
       melancholischen Piernikowski-Sound, wie er ihn auch auf seinem vielfach
       gepriesenen Album „No Fun“ (2017) präsentierte. Doch an diesem Abend
       regiert eher die Nostalgie, eine Spannung wird aufgebaut, die im Nichts
       endet: Piernikowski rappt einfach nicht.
       
       Sein Set ist zwar definitiv „Primeshit“, wie er seine Musik ironisch zu
       nennen pflegt, aber am Ende wirken die Fans etwas enttäuscht darüber, dass
       sie seine charakteristische Stimme nicht zu hören bekommen. Tags darauf
       tritt am selben Ort Piernikowskis alter Weggefährte 2k88 (vormals 1988)
       auf. Zusammen hatten sie mit ihrem HipHop-Duo Syny, Söhne, die polnische
       Musikszene aufgemischt. 2k88s Set ist ebenfalls nostalgisch, aber zugleich
       unglaublich energiegeladen – die Fanbase tanzt und reagiert begeistert.
       
       Das Unsound-Festival fand auf Initiative des Australiers Mat Schulz und
       seines US-amerikanischen Freundes Stephen Berkley erstmals 2003 in Krakau
       statt. Inzwischen hat es sich längst als Institution der experimentellen
       Musikszene etabliert. Neben der jährlichen Ausgabe in Krakau gibt es
       kleinere Festival-Ableger in London, New York, Toronto, sogar im
       australischen Adelaide. Zwischen 2016 und 2018 organisierte Unsound elf
       Festivals in Osteuropa, Zentralasien und im Kaukasus. Mit
       Residenzprogrammen, Auftragswerken und Premieren wird versucht, ein
       einzigartiges Musikerlebnis zu schaffen. Alles in allem ist es 2023 ein
       sehr intensives und vielfältiges Erlebnis in Krakau, bei dem stets Neues zu
       entdecken ist.
       
       14 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Elektronik-Produzent-Efdemin/!5573150
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   DIR [3] /Elektronikfestival-Unsound-in-Krakau/!5244074
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=QqZBqk20A4M
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yelizaveta Landenberger
       
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       ist nun auch die Musik des Komponisten Moondog angekommen.