URI: 
       # taz.de -- Neues Buch von Jochen Schmidt: Vorm Fernseher eingeschlafen
       
       > Jochen Schmidts gesammelte „Schmidt sieht fern“-Kolumnen erzählen einen
       > meist gutgelaunten Alltagsroman. Nostalgisch sind sie auch.
       
   IMG Bild: Autor Jochen Schmidt
       
       Jochen Schmidts 2008 erschienener Band „Schmidt liest Proust“ ist längst so
       etwas wie ein Geheimklassiker. Die „Suche nach der verlorenen Zeit“ zu
       lesen, das kann schnell etwas von ausgestellter Bildungshuberei annehmen,
       nicht so bei Jochen Schmidt. Er schloss einem die „Recherche“ noch einmal
       auf, motivierte zur eigenen Lektüre und wendete Prousts mikroskopische
       Zergliederung der eigenen Gefühls- und Gedankenproduktion auch auf sein
       eigenes Leben an.
       
       „Man könnte sagen, dass man nicht sterben sollte, [1][ohne Proust gelesen
       zu haben]. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren“, fasst
       Schmidt seine Lektüreerfahrung zusammen. Wie wichtig Proust ihm geworden
       ist, sieht man zum Beispiel an seinem im vergangenen Jahr [2][erschienenen
       Roman „Phlox“;] lange, rhythmisch wie schaukelnde Sätze, eine Combraysche
       Rückkehr in einen bedeutenden Ort der Kindheit, hier in der Uckermark, ein
       Gleiten durch die Zeiten vor und nach der Wiedervereinigung.
       
       Nun also „Zu Hause an den Bildschirmen“, im Untertitel: „Schmidt sieht
       fern“, wieder zusammengefasste Kolumnen so wie „Schmidt liest Proust“,
       diesmal die aus der FAS, die sich – und das ist ein Lektüreglück – wieder
       wie von selbst zu etwas Ganzem runden: Wahrnehmungen, Erkenntnisse und auch
       Alltagsslapstick eines zeitgenössischen Bewusstseins. Das Material dazu
       liefert jetzt nicht die verbissene tägliche Klassikerlektüre, sondern der
       entspannte alltägliche Medienkonsum.
       
       Das ist kein Hinabsteigen in die Banalität, sondern meistens gutgelaunte
       und auch ziemlich ehrliche Lebens-, Beziehungs- und Familienbegleitung.
       Anhand der Sendung „Küchenschlacht“ erzählt Jochen Schmidt, wie zentral
       Wiederholungen des Immergleichen beim Fernsehen sind, Rituale der
       Tagesgestaltung: „Wir gucken die Sendung aber nicht so sehr, weil uns
       Kochen interessiert, sondern weil hier nur freundliche Menschen zu sehen
       sind, die nichts Böses tun (außer Fleisch konsumieren)“.
       
       Man bekommt Einblicke in die deutsch-deutsche Geschichte, vor allem die
       Wichtigkeit des Westfernsehens im Osten; Jochen Schmidt ist [3][in der DDR]
       aufgewachsen, wurde dabei aber teilweise eben durch ARD und ZDF
       sozialisiert, inklusive Starren auf das Testbild.
       
       ## Vorm Fernseher gerade sitzen!
       
       Es gibt Schlaglichter auf die Geschichte des Fernsehens: „Als
       Fernsehansager einen noch strafend ansahen, wenn man beim Fernsehen nicht
       gerade sitzt.“ Es gibt zwischendurch weise Sätze: „Der einzige Sieg, um den
       es im Leben geht, ist doch der gegen das eigene Ego.“ Ein Sieg, den Schmidt
       selbst allerdings öfter verfehlt, etwa wenn es darum geht, rechtzeitig den
       Fernseher wieder auszuschalten und ins Bett zu gehen. Und mindestens eine
       hübsche Anspielung auf Proust gibt es in diesem Zusammenhang auch: „Lange
       Zeit bin ich [4][vor dem Fernseher] eingeschlafen.“
       
       Weil das lineare Fernsehen auf dem Rückzug ist und durch Streamen ersetzt
       wird und das Fernsehgerät längst nicht mehr der „Kontrollmonitor für die
       Welt“ ist, hat das Ganze auch eine nostalgische Note. Wir amüsieren uns zu
       Tode – so lautete vor Jahren einmal die kulturpessimistische Diagnose über
       den Medienkonsum. Jochen Schmidt demonstriert etwas anderes: Es gibt
       überall etwas wahrzunehmen, um davon zu erzählen. Man muss es eben nur
       machen.
       
       18 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Zum-100-Todestag-Marcel-Prousts/!5893415
   DIR [2] /Autor-Jochen-Schmidt-ueber-Erinnerungen/!5929253
   DIR [3] /Buch-ueber-DDR-Geschichte/!5931542
   DIR [4] /Fernsehen/!t5008114
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dirk Knipphals
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
   DIR DDR
   DIR Lineares Fernsehen
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
   DIR Jochen Schmidt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Autor Jochen Schmidt über Erinnerungen: „Man muss in die Gesellschaft rein“
       
       In seinem neuen Roman „Phlox“ geht es um den Abschied von Kindheitssommern
       im Oderbruch. Das hat auch autobiografische Spuren, gibt Jochen Schmidt zu.
       
   DIR Das Grundgesetz als Inspiration: Eigentum, Mutter-Frust und Tierrechte
       
       Im literarischen Kommentar zum Grundgesetz von Georg M. Oswald
       interessieren sich die meisten Schriftsteller:innen gar nicht für die
       Verfassung.
       
   DIR Jochen Schmidt über sein neues Buch: „Wir waren ja total materialistisch“
       
       Der Schrifsteller Jochen Schmidt über seinen neuen Roman „Schneckenmühle“,
       eine Jugend am Ende der DDR, die Nachwendezeit in Berlin und Lesebühnen.