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       # taz.de -- Herausragender “Tatort“ aus Hessen: Alles düster im Paradies
       
       > Der Plot ist bizarr, manch Witz unnötig, der Kommissar depressiv. Der
       > “Tatort“ mit Ulrich Tukur setzt sich ab – auch visuell ein herausragender
       > Film.
       
   IMG Bild: Ulrich Tukur als Felix Murot in einer Szene aus „Murot und das Paradies“
       
       Murot ist einsam – und das kann man riechen. Er müffelt „säuerlich“,
       bemerkt eine junge Frau, als sie dem LKA-Beamten gegenübersteht, und das
       käme von der Einsamkeit. Aber da sind wir schon mitten drin im neuen Fall
       von Murot, dem mittlerweile 12. „Tatort“ mit dem Wiesbadener LKA-Ermittler.
       Diesmal geht es ums Paradies, dem Verheißungsort schlechthin, wo alle
       Menschen bis in alle Ewigkeit glücklich sein sollen. Denn Murot, das sieht
       man gleich, ist alles andere als glücklich. Irgendwie ist der Herr
       Kommissar (Ulrich Tukur) vom glückseligen, rotweinbeschwipsten, mit Bonmots
       um sich werfenden, [1][stilvollem Lebemann] zu einem Häufchen Elend
       mutiert. Eine traurige Gestalt.
       
       Das Drehbuch von Florian Gallenberger, der auch Regie führte, schrieb Murot
       eine Depression an den Hals. Deshalb liegt er bei einem Analytiker (Martin
       Wuttke) auf einer Couch und gibt sein Innerstes preis. Seine Seelenpein ist
       ja auch nachvollziehbar: Jeden Tag dieselbe Leier, sinniert Murot, und
       „schwupps ist man 60 und hat keinen Sex mehr, dafür aber Rentenansprüche“.
       Und dann singt er ein Lied von früher, weil er sich darin wiederfindet,
       schließlich suchen wir doch alle nach einem „Stück vom Glück“ – ältere
       Semester werden es kennen: [2][„Herr Rossi sucht das Glück“] heißt der Song
       aus dem Jahr 1976.
       
       Von der Therapeutencouch wird Murot zu einem Leichenfund gerufen. Aber das
       ist ja gar kein Mordfall!, echauffiert sich Murot. Kollegin Wächter
       (Barbara Philipp) ist sichtlich irritiert über seine miese Laune. Doch die
       Pathologin (Eva Mattes – die Szenen mit ihr sind wunderbare Kabinettstücken
       an sich) klärt das Rätsel auf. Das Todesopfer ist verdurstet, steckte aber
       bis zum Hals in Wasser. Ja, und da wäre noch was: Der Bauchnabel fehlt,
       stattdessen wurde eine Art Steckdose, so etwas wie ein Port angelegt, so
       als ob man dort wieder eine Nabelschnur anstecken könnte …
       
       Murot und Wächter plus zwei junge Kollegen ermitteln, dass die junge Frau
       als Investmentbänkerin arbeitete, so wie ein zweiter Toter – und auch ihm
       fehlt der Nabel. Es scheint, als ob sich beide einer seltsamen Behandlung
       unterzogen haben. Oder einer Art Gehirnwäsche. Freiwillig. Und natürlich
       geht es dabei ums Geld und eine echt perfide Geschäftsidee.
       
       ## Auf höchstem Niveau visualisiert
       
       Das alles ist toll inszeniert, vor allem weil es im Verlauf zu wirklich
       unerwarteten Szenen – sie wirken wie kleine Kurzfilme im Film – kommt. Denn
       Murots Vorstellungen von Glückseligkeit, tief aus seiner Seele
       hervorgeholt, werden auf höchstem Niveau visualisiert. Ja, „Murot und das
       Paradies“ ist wieder einer dieser herausragenden Murot-Krimis.
       
       Ein Erzählstrang jedoch mutet seltsam an, das soll wohl lustig sein: Okay,
       der bizarr anmutende Port sieht eben aus wie ein Schlitz in der Bauchdecke.
       Aber warum es dann Vulva-Abdrücke der Toten und ihrer Freundin (der
       eingangs an Murot riechenden Frau) braucht und auch Witzeleien über
       Vagina-Cupcakes etc.? Das hätte man sich schenken können.
       
       Der Rest des Krimis aber ist sehr zu empfehlen. Weil das Thema Glück so
       universell ist. Weil es schön absurd wird. Weil es tolle Wendungen gibt und
       super Einfälle. Und weil selbst ein depressiver Murot geniale Sprüche auf
       Lager hat. Etwa wenn er vom perfekten Glück, zum Beispiel in einem Traum,
       erzählt: „Aber wissen Sie was? Dafür sind wir Menschen nicht gemacht“, sagt
       er zu seinem Analytiker, also fürs perfekte Glück. „Das ist die Hölle.“
       
       So lässt sich dann auch der Titel des Krimis verstehen. Das Paradies liegt
       ganz plump hinter einer Tür – und ist eben doch alles andere als das,
       sondern das Gegenteil. Doch Murot wird diese Schwelle überschreiten. Und
       Magda Wächter – was für ein treffender Nachname! – rettet ihrem Kollegen
       mal wieder den Arsch. Und ja, über allem weht Abschied. Hoffentlich gibt es
       noch mehr Fälle mit Murot und Wächter.
       
       22 Oct 2023
       
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