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       # taz.de -- Faszinierender Ethnologe Wilhelm Joest: Er hielt Kunst aus Afrika für Kunst
       
       > Das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum geht auf die Sammlung von Wilhelm
       > Joest zurück. Zwei Bücher stellen den widersprüchlichen Ethnologen vor.
       
   IMG Bild: Wilhelm Joest war von den rassistischen Ideen seiner Zeit geprägt – und dachte über sie hinaus
       
       Soll man ihn nicht einen Künstler nennen, diesen Afrikaner, der die
       Loango-Figur als Darstellung einer Mutter mit ihrem Säugling geschaffen
       hat? Die Frage, die Wilhelm Joest 1896 in einer Festschrift anlässlich des
       70. Geburtstages seines Mentors Adolf Bastian leise anbringt, war nicht
       weniger als ein Bruch mit den bis dato geltenden Überzeugungen der
       Völkerkunde. Dabei war Joest kein Aufrührer, vielmehr Bewohner eines
       Europas, das die Welt in Kultur und Natur einteilte und damit auf allen
       Kontinenten seinen Einfluss legitimierte.
       
       Wilhelm Joest, geboren im Jahr 1852 als Sohn eines Kölner
       Zuckerfabrikanten, war ein Völkerkundler und Reisender des 19.
       Jahrhunderts. Bevor er 1897 im Alter von 45 Jahren einer Krankheit erlag,
       vermachte er seine Ethnografika-Sammlung seiner Schwester Adele
       Rautenstrauch. Die wiederum schenkte sie der Stadt Köln und finanzierte
       gleich noch den Museumsbau, auf dass die Privatsammlung ihres Bruders mit
       rund 3.400 Objekten – oft Alltagsobjekte wie Löffel, Körbe oder Schmuck –
       angemessen verwahrt und präsentiert werde. Es war der Grundstein für das
       Kölner Museum für Völkerkunde, [1][das heutige Rautenstrauch-Joest-Museum.]
       
       ## Ein Lebemann, der gerne trank und aß
       
       Gleich zwei Bücher setzen sich nun mit Wilhelm Joest als Reisendem, als
       Autor und Forschendem auseinander und spüren damit auch der
       Entstehungsgeschichte des Kölner Museums nach. Denn Joest gehörte zu den
       wenigen ethnografisch Forschenden, die in Tagebüchern, Briefen und
       Aufsätzen Auskunft über ihren Reisealltag, ihre Erwerbungen und Haltungen
       Zeugnis ablegten.
       
       In ihrer Biografie „Der gesammelte Joest“ stellt Anne Haeming den
       freischaffenden Ethnologen als einen Lebemann vor, der gerne trank und aß,
       je nach Adressat seiner Texte wissenschaftliche Abhandlungen oder launige
       Reiseberichte schrieb und dort, wo er sich gerade aufhielt, schnell
       wichtige Kontakte schloss. Haeming stellt Joest aber auch als
       Repräsentanten preußischer Politik vor, macht ihn zum Stellvertreter einer
       Ära, deren Nachwirken [2][derzeitige postkoloniale Debatten] begründet.
       
       ## Halb tastende Rhetorik, halb Vorschlag
       
       Acht Bücher hat Joest in seinem kurzen Leben hinterlassen, daneben
       zahlreiche Fachaufsätze, Reisereportagen und Zeitungsbeiträge. Geschickt
       verweigert sich Haeming der Chronologie eines Lebens und lädt vielmehr dazu
       ein, in eigenständigen Kapiteln nach Gusto in die Welt Wilhelm Joests
       einzutauchen. Das Prinzip geht auf, weil die Autorin von Gegenständen und
       Orten ausgehend die historische Figur Joest umkreist und sich in
       Spiralbewegungen ihrer historischen Figur nähert.
       
       So spürt die Kulturjournalistin und [3][taz-Autorin] dem Verbleib der
       sogenannten Loango-Figur der Mutter mit ihrem Säugling im Reportagestil
       nach, überspringt dabei Zeiten und Räume und macht den kunstgeschichtlichen
       Exkurs zur kurzweiligen Lektüre. Die Holzskulptur aus dem Gebiet der
       heutigen Republik Kongo war für Joest Anlass, die Hersteller:innen
       kongolesischer Phemba-Figuren nicht mehr als Angehörige eines Naturvolkes
       zu bezeichnen, sondern sie als Künstler:innen zu verstehen. „Halb als
       tastende Rhetorik, halb als Vorschlag, mal neu über die ganze Sache
       nachzudenken“, wie Haeming den Schlüsselsatz in Joests Aufsatz deutet.
       
       ## Gegen die Ignoranz der europäischen Kunstgeschichte
       
       Mit seinem tastenden Vorschlag kommt Joest dem Kunsthistoriker Carl
       Einstein zuvor, der sich 20 Jahre später gegen die Ignoranz der
       europäischen Kunstgeschichte richten und seinen Leser:innen afrikanische
       Skulpturen wie ebenjene Loango-Figur offensiv als Kunst vorstellen wird.
       
       Während sich Einstein mit [4][Kubisten wie Braque und Picasso] und deren
       Faszination für außereuropäische Kunst verbündete, gehörte Joest einem
       interdisziplinären Berliner Forschungsnetzwerk an. Sein Mentor Adolf
       Bastian war Gründungsdirektor des Berliner Museums für Völkerkunde,
       seinetwegen zog Joest von Köln nach Berlin. Der Archäologe und Ethnograph
       Felix von Luschan war sein Bereichsleiter, der Universalgelehrte Rudolf
       Virchow ein Kollege.
       
       Gleich den deutlich prominenteren Vertretern der frühen deutschen
       Ethnologie war Joests Blick auf die Welt geprägt von der damals als
       Wissenschaft anerkannten Rassenkunde und einem ausgreifenden europäischen
       Kolonialismus. „Er versuchte, die Welt um sich herum zu verstehen, aber
       sein Blick war dabei immer schon vorgeprägt“, formulieren es Anne Haeming
       und Carl Deußen im zweiten Band „Aus Indien nach Santa Cruz durch die
       Ethnologie“ diplomatisch.
       
       Dieses zweite Buch trägt ausgewählte Texte Joests zusammen und erlaubt es,
       noch tiefer in dessen Arbeit und Gedankenwelt einzutauchen. Selektiv nennen
       Haeming und Deußen die Perspektive dieses Forschungsreisenden, weil das
       genaue Dokumentieren von menschlichen Begegnungen und von Gegenständen
       einherging mit dem Hinwegsehen über gewaltförmig organisierte koloniale
       Strukturen.
       
       ## Postkoloniale Distanzierung hat ihre Grenzen
       
       Wie also umgehen mit den historischen Texten, die aus gegenwärtiger
       Perspektive rassistische Machtstrukturen reproduzieren? Die beiden
       Herausgeber:innen kommentieren, ordnen biografisch und
       kulturgeschichtlich ein. Jedem Joest-Text gehen einleitende Bemerkungen
       voraus. In den Originaltexten sind herabwürdigende Begriffe durchgestrichen
       wiedergegeben.
       
       Diese mittlerweile etablierte Form postkolonialer Distanzierung hat jedoch
       ihre Grenzen. Da ist der Begriff „Tropen“ durchgestrichen, wohl deshalb,
       weil er nicht nur eine Klimazone bezeichnet, sondern auch als
       exotisierendes Motiv durch die europäische Malerei, Literatur und Reklame
       geistert. Wenn nur wenige Zeilen weiter Joest den schwarzen deutschen Herrn
       Mutzenbecher, einen Bewohner der indonesischen Insel Saparua, als
       „pechrabenschwarz“ beschreibt, bleibt der Vergleich unmarkiert und geht als
       Beschreibung durch.
       
       Das Beispiel zeigt: Komplett entwaffnen lassen sich Joests Aufzeichnungen
       nicht. Sie müssen ausgehalten werden, will man sie nicht in den Giftschrank
       verbannen. So geht Wilhelm Joest aus beiden Büchern als facettenreicher
       Charakter hervor, der den holländischen Kolonialismus als Bringer einer
       Zivilisation pries und zugleich bereit war, solche Kategorien und
       Hierarchisierungen beiseite zu legen und Skulpturen aus der Hand
       afrikanischer Produzent:innen als Kunst anzuerkennen.
       
       13 Nov 2023
       
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