URI: 
       # taz.de -- Die Linke und die Barbarei der Hamas: Sie verstehen den 7. Oktober nicht
       
       > Wenn Israel schwach ist und Jüdinnen und Juden ermordet werden: Müsste es
       > im persönlichen politischen Koordinatensystem nicht irgendwo jucken?
       
   IMG Bild: Washington, 18.10.2023: Naomi Klein demonstriert für einen Waffenstillstand in Gaza
       
       Sie prasseln herein, die Stellungnahmen und [1][offenen Briefe der
       Intellektuellen], der Kunsttreibenden, SchauspielerInnen und sonstigen
       linken und linksliberalen Prominenten aus aller Welt, vor allem der
       englischsprachigen. [2][Sie verlangen „Feuerpause“], „Waffenstillstand“,
       „Schutz der Zivilisten“ und „Frieden“ für Gaza und Nahost.
       
       Wie immer gilt: Wer wollte etwas gegen Frieden haben? Nur war da doch noch
       was.
       
       Die menschlichen und politischen Abgründe, die sich mit dem Massaker der
       Hamas am 7. Oktober auftaten, kommen in diesen Texten nicht vor. Das lässt
       nur den Schluss zu, dass den AutorInnen und Unterzeichnenden die Existenz
       des Landes Israel als garantierte Heimstatt für Jüdinnen und Juden
       mindestens egal ist. Dass sie die außergewöhnliche Barbarei der Hamas nicht
       als solche wahrnehmen und sich ihr Bild vom Nahostkonflikt deshalb auch
       nicht nennenswert ändert.
       
       Stattdessen servieren sie Slogans, „Stop Genocide in Gaza“ – oder in den
       Worten der kanadisch/US-amerikanischen Publizistin Naomi Klein auf
       Twitter/X: „Speak out against genocidal violence.“ Sie meint israelische
       Gewalt. Zur Art der Gewalt der Hamas: kein Wort.
       
       ## Naomi Klein liefert wirkungsvoll Pointen
       
       Naomi Klein gehört zu den jüdischen AktivistInnen in Nordamerika, die sich
       schon länger für die Rechte der PalästinenserInnen einsetzen. Das war
       bisher aber nicht ihr Hauptthema. Klein hat seit über zwanzig Jahren die
       linke und globalisierungsskeptische Debatte geprägt. Mit Büchern [3][wie
       „No Logo!“], auf Deutsch 2001 erschienen, [4][oder 2007 „Die
       Schock-Strategie“] hat sie den kapitalismuskritischen Diskurs auch in
       Deutschland stark beeinflusst.
       
       Es ist selten seriös, PublizistInnen sofort als „Ikonen“ oder
       „Säulenheilige“ zu bezeichnen, nur weil sie Hörsäle füllen und sich ihre
       Bücher gut verkaufen. Aber jede soziale Bewegung hat ihre Thesen- und
       PointenlieferantInnen, und Naomi Klein ist davon eine besonders
       wirkungsvolle.
       
       Ich nenne sie hier dennoch nur stellvertretend für die vielen, von denen
       ich schlicht angenommen hätte, dass der 7. Oktober bei ihnen etwas im Kopf
       verschieben würde. Klein ist alt und belesen genug, um zu wissen, dass der
       Nahostkonflikt, wenn überhaupt, dann sicher keine einfache Lösung kennt.
       
       ## Hat sich nichts geändert?
       
       Einmal unterstellt, dass für Klein wie für viele andere die
       palästinensische Sache schon deshalb ins ideologische Programm gehörte,
       weil anständige Linke immer erstmal zu den Schwächeren halten und der Staat
       Israel so stark wirkte: Das hat sich an jenem Samstag erledigt. Müsste es
       dann nicht im persönlichen politischen Koordinatensystem irgendwo jucken?
       
       „This changes everything“ (deutscher Titel: „Die Entscheidung: Kapitalismus
       vs. Klima“) von 2015 [5][ist ein weiterer Bestseller Kleins]. Für
       klimapolitisch Eingelesene mag darin nicht viel Neues gestanden haben. Aber
       der englische Titel brachte die Notwendigkeit, angesichts schier
       überwältigender Ereignisse (Klimawandel) grundlegende Mechanismen
       (Marktwirtschaft) zu überdenken, auf eine großartige Formel. Vielleicht
       hoffte ich deshalb, Klein würde nach dem Pogrom der Hamas wenigstens sagen:
       „This changes something.“
       
       Ist aber nicht so. Und es frustriert mich zutiefst, dass so viele Leute,
       mit denen ich Ideen und Ziele teile oder zu teilen dachte, die Bedeutung
       dieses 7. Oktobers für Jüdinnen und Juden, für Israel, und für menschlichen
       Umgang insgesamt zu ignorieren scheinen. Die Globalisierungskritik hat seit
       Ende der 1990er Jahre eine neue internationale, von Beginn an ökologische
       Linke geschaffen. Sie hat so viel erreicht. Mir ist nicht klar, wie die
       Bewegung diesen Oktober überstehen soll. Mir ist nicht klar, wie die Linke
       überhaupt diese Runde des Nahostkonflikts überstehen soll.
       
       29 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.lrb.co.uk/blog/2023/october/an-open-letter-on-the-situation-in-palestine
   DIR [2] https://www.democracynow.org/2023/10/19/rashida_tlaib_naomi_klein_dc_rally
   DIR [3] /!1183616/
   DIR [4] /Neues-Buch-von-No-Logo-Autorin-Klein/!5193294
   DIR [5] /Politisches-Buch-zum-Klimaschutz/!5029734
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Winkelmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Ernsthaft?
   DIR Hamas
   DIR Naomi Klein
   DIR Pogrom
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR GNS
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Israel
   DIR Antisemitismus
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Kolumne Grauzone
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Linke Systemkritik: Zwischen Weltuntergang und Kitsch
       
       Was waren das für Zeiten, als Linke alles mies finden durften. Heute darf
       Regierungkritik den Rechten keinen Vorschub leisten.
       
   DIR Freie Universität Berlin: Anti-israelischer Protest in Dahlem
       
       Mehr als hundert Menschen demonstrieren vor der Freien Universität gegen
       Israels Angriffe auf Gaza. Auch ein kleiner Gegenprotest formiert sich.
       
   DIR Leon Kahane über die Kunstszene: „Antisemitismus ist verbreitet“
       
       Die Solidaritätsbekundungen von Kulturschaffenden mit der Hamas sind laut
       dem jüdischen Künstler Leon Kahane repräsentativ für den gesamten Diskurs.
       
   DIR Krieg zwischen Israel und Hamas: Die Bodenoffensive kommt erst noch
       
       Israels Militär ist nun auch mit Truppen in Nordgaza aktiv.
       Hamas-Terroristen verstecken sich in Tunneln, die Zivilbevölkerung leidet.
       
   DIR Relativierung von Antisemitismus: Ein Abgrund hat sich aufgetan
       
       Seit dem Pogrom der Hamas vom 7. Oktober ist die Verunsicherung unter
       Jüdinnen*Juden noch gewachsen. Morde gelten als Widerstand,
       antisemitische Gewalt ist alltäglich.
       
   DIR +++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: 1.800 antisemitische Straftaten
       
       Der Verfassungsschutz warnt vor Gewalt gegen Jüd:innen in Deutschland.
       Fast die Hälfte der Israelis ist gegen eine Bodenoffensive in Gaza. Laut
       Hamas wurden bisher 3.000 Kinder getötet.