URI: 
       # taz.de -- Leon Kahane über die Kunstszene: „Antisemitismus ist verbreitet“
       
       > Die Solidaritätsbekundungen von Kulturschaffenden mit der Hamas sind laut
       > dem jüdischen Künstler Leon Kahane repräsentativ für den gesamten
       > Diskurs.
       
   IMG Bild: Kassel, 20. Juni 2022: Das Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi wird verhüllt
       
       wochentaz: Herr Kahane, leben Sie als Künstler noch in Tel Aviv? 
       
       Leon Kahane: Aktuell nur noch in Berlin. Ich habe mal eine Weile dort
       gelebt und auch als Pressefotograf gearbeitet. Aber meine Geschwister
       wohnen beide in Israel.
       
       Wie geht es denen? 
       
       Meine zwei Neffen sind jetzt als Reservisten an die Grenze zu Gaza
       eingezogen worden. Und meine Nichte ist mitten im Wehrdienst. Sie ist an
       der ägyptischen Grenze. Es sind Kids, die ganz bewusst darüber nachdenken,
       wie sich auch die Situation in Palästina verbessern könnte, keine Menschen,
       die einfach drauflos rennen würden. Natürlich geht das an mir überhaupt
       nicht spurlos vorbei. Und wenn ich in die sozialen Medien schaue, wird mir
       einfach schlecht.
       
       Sie meinen die Berichte über [1][Gräueltaten der Hamas]? 
       
       Ich beziehe das auch auf die wohlwollenden Reaktionen auf den Terror. In
       der internationalen linken Kunst- und Kulturszene wurden die Morde der
       Hamas teilweise als legitimer Widerstand gerechtfertigt und Opfer des
       Terrors mit Häme überschüttet. Da wurde die Entmenschlichung vollendet. Es
       war das schlimmste Pogrom gegen Jüdinnen und Juden seit dem
       Nationalsozialismus. Die Taten und die weltweite Unterstützung empfinde ich
       als einen Angriff auf das zivilisatorische Prinzip.
       
       Wie nehmen Sie die Reaktionen in Deutschland wahr? 
       
       Im deutschen Kontext war man zurückhaltender, vielleicht, weil man Angst
       hatte, dass es einem auf die Füße fällt. Aber viele verfallen hier in ihrer
       Argumentation in eine Regression.
       
       Was verstehen Sie darunter? 
       
       Es meint einen kindlichen Rückzug auf eine Argumentation, nach der es
       keinen Unterschied zwischen den beiden Parteien gibt, weil überall Opfer zu
       beklagen sind. Es wird dann überhaupt nicht mehr nach der Motivation von
       Gewalt gefragt. Dabei macht es einen Unterschied, ob man versucht, zivile
       Opfer zu vermeiden oder sie das Ziel sind. Und, ob es eine
       Zivilgesellschaft gibt, die einfordert, dass SoldatInnen und PolizistInnen
       zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie Unrecht begehen.
       
       Sie meinen Israel? 
       
       Ja, diese sehr aktive Zivilgesellschaft gibt es in Israel natürlich. Die
       Leute gehen auf die Straße, demonstrieren für Gleichberechtigung, kämpfen
       für Demokratie, sehen – zu Recht – in der aktuellen Regierung eine Gefahr
       für die [2][offene Gesellschaft]. Das ist quasi die eine Seite – die ja
       natürlich auch keineswegs gewaltfrei ist.
       
       Und die andere Seite? 
       
       Auf der anderen Seite, der Seite der Hamas, sind zivile Opfer das erklärte
       Ziel der Gewaltaktionen. Ich würde sagen: Das Zivilisatorische an sich wird
       zum Ziel, die Moderne, die Aufklärung, das, was zunehmend abwertend als
       „westliche Kulturhegemonie“ bezeichnet wird, obwohl es dabei um die
       Grundlagen der allgemeinen Menschenrechte geht. Nur in dieser Logik können
       die zivilen Opfer als Feindbild eines autoritären Regimes legitimiert
       werden, nur so wird dieser Gewaltakt zu einem Moment der Revolution gegen
       die Unterdrückung.
       
       Das müssen Sie erklären. 
       
       Die Geschichte der Moderne ist auch – nicht nur, aber auch – eine
       Geschichte des Judentums, und die Geschichte der Antimoderne ist immer eine
       Geschichte des Antisemitismus. Ich sage ganz bewusst Antimoderne und meine
       nicht den kritischen Ansatz, dass man mit Mitteln der Aufklärung die
       Schuldzusammenhänge der Moderne aufklärt. Sondern ich meine die Abwicklung
       der Aufklärung. Am Ende dessen steht dann nicht eine bessere Welt, sondern
       nur noch Autoritarismus. Wenn man eine Antimoderne mit modernen Mitteln
       erwirken will, dann ist man bei der Hamas.
       
       Halten Sie die teilweise unterstützenden Äußerungen für die Gewalttaten der
       Hamas, die man in den sozialen Medien aus der internationalen Kulturszene
       beobachten konnte, für repräsentativ auch für die reale Welt? 
       
       Ja, sie bilden den Diskurs ab. Paradoxerweise führt diese Gewalt, dieses
       Pogrom, das wir am 7. Oktober gesehen haben, nicht dazu, dass in der
       internationalen Kulturszene darauf entsprechend reagiert wird. Im
       Gegenteil. Aber für mich ist das nicht überraschend.
       
       Wieso nicht? 
       
       Problematische Denktraditionen und auch [3][Antisemitismus sind in der
       Szene auch nach dem Nationalsozialismus weit verbreitet]. Wir haben es
       schon bei Joseph Beuys gesehen.
       
       Was hat Beuys damit zu tun? 
       
       Für Joseph Beuys lagen die Ursprünge von Auschwitz in der Moderne, im
       westlichen Materialismus. Und er sagte auch: Moses war der erste
       Materialist. Für ihn waren die Juden also die Urheber ihres eigenen
       Schicksals. Dabei war Auschwitz das Ergebnis einer antimodernen,
       antisemitischen, völkischen, essenzialistischen Ideologie. Beuys teilte die
       Menschen auf, in intellektualistische und rationalistische „Westmenschen“
       und in ursprüngliche authentische „Ostmenschen“ mit „altem Wissen“, einem
       „tiefen Seelengefühl“ und aufgeladen mit diesem ganzen anthroposophischen
       Mist. Leider haben wir so was auch letztes Jahr [4][auf der Documenta 15
       gesehen].
       
       Wie hängt das zusammen? 
       
       Dieses dichotome Weltbild zeigte der Banner des indonesischen
       Künstlerkollektivs Taring Padi exemplarisch: eine Welt, aufgeteilt in einen
       paradiesischen Teil, wo die Menschen „ursprünglich“ und „authentisch“
       leben, und einen verkommenen Teil, der als „zivilisiert“ oder „westlich“
       beschimpft wird. Auf dem Banner, das dann ja auch Anlass der Kritik war,
       wird die westliche Kultur durch rauchende Schornsteine, Kriege,
       Geheimdienste repräsentiert. Und da ist ja auch was dran: Die Welt ist
       voller Konflikte. Pandemie, Wirtschaftskrise, Klimawandel, Rassismus,
       Imperialismus, Kriege – all das ist ja schwer zu ertragen.
       
       Sollte da nicht auch die Kunst für eine bessere Welt eintreten? 
       
       Doch, absolut. Aber es geht in eine falsche Richtung, wenn eine Utopie sich
       aller Widersprüche zu entledigen versucht. Das Problem fängt dann an, wenn
       die Widersprüche der Welt, in die wir auch alle selbst verstrickt sind,
       simplizistisch gelöst und externalisiert werden. Das ist ein typischer
       Moment, wo der Antisemitismus sich bis zur Gewalt richtig entfesselt, denn
       Antisemitismus ist eine Kulturtechnik. Auf dem Banner von Taring Padi war
       dann der Jude der Urheber alles Bösen. Er steht noch hinter dem Teufel und
       manipuliert ihn.
       
       Wie verbreitet ist dieses Weltbild in der Kunst? 
       
       Wir sehen einen enormen Zuwachs an essenzialistischer, identitärer Kunst.
       Oft wird das Indigene zum Gegenstand von Projektionen. Das geht einher mit
       der Überhöhung einer Idee von Ursprünglichkeit und Authentizität. Sehr viel
       wird über die Kategorie des „Volks“ verhandelt. Anstelle des Individuums
       tritt das Kollektiv: Wir sind, was wir sind, und das ist ungebrochen und
       unhinterfragbar. Ich glaube, das ist das, was gerade Deutsche attraktiv
       finden [5][am Postkolonialismus], weil sie sozusagen ein
       Verantwortungsverhältnis nach außen verschieben.
       
       Gerade im Kulturbetrieb kam es aber auch zu einer vermehrten Aufarbeitung
       der Kolonialgeschichte, [6][der Hinterfragung der Provenienz von
       Ausstellungsstücken]. 
       
       Ja, richtig so! Aber warum leitet sich daraus die Idee, die Überzeugung ab,
       man müsse den Holocaust in die Gewalttradition des Kolonialismus stellen?
       
       Was meint das? 
       
       Dass Deutschland mit der Aufarbeitung des Holocaust einen zu
       eingeschränkten, „provinziellen“ Blick habe. Nun: Deutschland muss in der
       Aufarbeitung seiner Kolonialverbrechen einiges nachholen. Aber es gibt
       darüber hinaus die Forderung, den Holocaust nicht mehr als präzedenzloses
       Menschheitsverbrechen zu sehen, sondern als einen Genozid von vielen. So
       wie Antisemitismus dann auch zu einer Spielart des Rassismus erklärt wird.
       Da steht Auschwitz dann neben empörend falscher Migrationspolitik und neben
       dem Krieg in Gaza. In dieser Logik wird Geschichte umgeschrieben. Wie sich
       das auf die Gegenwart und sie Zukunft auswirkt, können wir gerade live
       miterleben.
       
       30 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Israel-zeigt-Medien-Hamas-Aufnahmen/!5968766
   DIR [2] /Justizreform-in-Israel/!5946393
   DIR [3] /Antisemitismus-im-Kulturbetrieb/!5962724
   DIR [4] /Antisemitismus-auf-der-documenta15/!5900093
   DIR [5] /Postkolonialismus/!t5015858
   DIR [6] /Rueckgabe-an-Kamerun/!5863630
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jean-Philipp Baeck
       
       ## TAGS
       
   DIR Antisemitismus
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Kunst
   DIR Moderne
   DIR Aufklärung
   DIR wochentaz
   DIR GNS
   DIR IG
   DIR Antisemitismus
   DIR Antisemitismus
   DIR NS-Gedenken
   DIR taz Plan
   DIR Kolumne Ernsthaft?
   DIR Israel
   DIR Israel
   DIR Kulturszene
   DIR Landtagswahl in Hessen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Antisemitismus an US-Eliteunis: Nicht ein Wort über die Hamas
       
       Seit dem 7. Oktober wird Antisemitismus auf dem US-amerikanischen Campus
       sichtbar. Ein einseitiges Weltbild gibt es in der Lehre schon lange.
       
   DIR Antisemitismus bei der Documenta: Jetzt hilft nur noch Förderstopp
       
       Die Documenta-Leitung hätte aus ihren Fehlern lernen können. Stattdessen
       scheint schon wieder ein Antisemit in der Findungskommission zu sitzen.
       
   DIR NS-Gedenken in der Kunst: Wie ein völkisches Betriebssystem
       
       Eine Ausstellung in Darmstadt fragt nach unserem Umgang mit dem NS. Seit
       dem 7. Oktober erhält es eine unheilvolle Aktualisierung.
       
   DIR Bewegungstermine in Berlin: Gegen alle Menschenfeindlichkeit
       
       Manche schweigen über die Massaker der Hamas, andere wollen über zivile
       Opfer in Gaza nicht reden. Ein entblößender Mangel an moralischer
       Integrität.
       
   DIR Die Linke und die Barbarei der Hamas: Sie verstehen den 7. Oktober nicht
       
       Wenn Israel schwach ist und Jüdinnen und Juden ermordet werden: Müsste es
       im persönlichen politischen Koordinatensystem nicht irgendwo jucken?
       
   DIR Krieg in Nahost: Im luftleeren Raum
       
       UNO-Generalsekretär António Guterres hat die Gräueltaten vom 7. Oktober
       relativiert. Schon oft hieß es bei Gewalt gegen Juden, dass sowas von sowas
       kommt.
       
   DIR Deutsche Kulturszene und Hamas: Unerträgliches Schweigen zur Gewalt
       
       Die deutsche Kulturszene ist sonst um keine Positionierung verlegen. Doch
       nach den Gräueln der Hamas gab es kaum Solidaritätsbekundungen mit Israel.
       
   DIR Antisemitismus im Kulturbetrieb: Permanente Grenzüberschreitung
       
       In Kunst und Kultur wird Terror gegen Israel gefeiert. Der Kongress
       „Reclaim Kunstfreiheit“ stellt sich in Berlin die Frage: Wie kann man dem
       begegnen?
       
   DIR Besuch in Kassel: Wir machen mal weiter
       
       In Kassel bekommt man einen Hauch Normalität ab – und viele gute
       Fleischwaren. Aber auch hier haben einige ihre persönliche Brandmauer
       eingerissen.