URI: 
       # taz.de -- Mehrarbeit in Berlin: Arbeiten bis zum Umfallen
       
       > Im vergangenen Jahr haben Beschäftigte Millionen Überstunden angehäuft –
       > die meisten unbezahlt. Personalmangel verschärft das Problem.
       
   IMG Bild: Nach Feierabend noch im Büro? In Deutschland eher die Regel als die Ausnahme
       
       Berlin taz | Kurzfristig von der erkrankten Kollegin eine Schicht
       übernehmen, angesichts der nahenden Deadline nach Feierabend noch ein paar
       Stunden mehr im Büro bleiben oder die Kneipe erst dann zumachen, wenn der
       letzte trinkfreudige Gast den Ausgang gefunden hat: Überstunden gehören für
       viele Beschäftigte zum Arbeitsalltag dazu.
       
       Eine am Donnerstag veröffentlichte Untersuchung, die von der
       Gastro-Gewerkschaft Nahrungs-Genuss-Gaststätten (NGG) in Auftrag gegeben
       wurde, zeigt, dass die Zahl der über das vertraglich vereinbarte Pensum
       hinausgehenden Arbeitsstunden in Berlin weiterhin auf einem hohen Niveau
       ist. Besonders erschreckend: Fast zwei Drittel der Überstunden werden weder
       bezahlt noch durch Freizeit ausgeglichen.
       
       Als einen „gewaltigen Berg“ bezeichnet der Autor der Untersuchung, Matthias
       Günther, die 37 Millionen Überstunden, die die Beschäftigten im vergangenen
       Jahr insgesamt angesammelt haben – davon rund 24 Millionen rechtswidrig
       unbezahlt. Das entspricht 0,9 Prozent der gesamten Arbeitsleistung. Nach
       einem kurzen pandemiebedingten Einbruch befinden sich die Zahlen damit fast
       wieder auf dem Niveau von 2019.
       
       Ein wesentlicher Grund für die steigenden Überstundenzahlen ist der
       Personalmangel in vielen Branchen. „Mittlerweile haben wir wieder dasselbe
       Umsatzniveau wie vor Corona, aber deutlich weniger Beschäftigte“, schildert
       NGG-Geschäftsführer Sebastian Riesner [1][die Situation in der
       Gastronomie]. Aufgrund der angespannten Personallage könnten Stunden kaum
       ausgeglichen werden, das frustiere enorm, so Riesner.
       
       ## Mehr Lohn statt Goodwill
       
       „Selbst viele langjährig Beschäftigte denken momentan darüber nach, die
       Branche zu verlassen.“ Statt auf „Goodwill-Überstunden“ zu bauen, sollten
       Hotellerie und Gastronomie endlich angemessene Löhne zahlen, um den
       Arbeitskräfteschwund zu stoppen, fordert Riesner.
       
       Die Ergebnisse der Untersuchung sind auch für Damiano Valgolio,
       arbeitspolitischer Sprecher der Linksfraktion, wenig überraschend: „Gerade
       in Branchen, die ohnehin schlecht bezahlt sind, gibt es die meisten
       unbezahlten Überstunden.“ Dazu gehöre neben der Gastronomie auch das
       Baugewerbe. Bereiche also, in denen informelle Arbeitsverhältnisse
       verbreitet sind, der Organisationsgrad schlecht ist und migrantische
       Arbeitskraft gerne ausgebeutet wird. Nicht selten rutschen viele
       Beschäftige aufgrund unbezahlter Überstunden unter das Mindestlohnniveau.
       „Arbeitgeber:innen machen sich dann im doppelten Sinne strafbar“, stellt
       Valgolio fest.
       
       Steigende Überstunden durch Personalmangel beschränken sich jedoch nicht
       nur auf Branchen, in denen prekäre Beschäftigung verbreitet ist. Am
       Donnerstagvormittag versammelten sich 2.000, vor allem in Kita-Betriebenen
       Beschäftigte zu einem Warnstreik vor dem Konferenzhotel in Potsdam, in dem
       aktuell die Verhandlungen über den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes
       der Länder stattfinden. Neben höheren Lohn fordern sie vor allem bessere
       Arbeitsbedingungen.
       
       Ohne Überstunden würden viele Kitas gar nicht mehr funktionieren, berichtet
       Verdi-Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer. Einrichtungen, in denen aktuell
       von 18 Stellen nur 5 besetzt sind, seien keine Seltenheit. Über die genaue
       Anzahl an Überstunden gebe es keine genauen Angaben, aber sie sei „enorm
       hoch“. Oft blieben auch diese unbezahlt, insbesondere, wenn es sich um
       vorbereitende Arbeiten handele, die zu Hause geleistet wird.
       
       ## Fachkräfte Exodus
       
       „Die Konsequenz sind hohe Burnoutraten und ein hoher Krankenstand“, sagt
       Böhmer. Das sei wiederum eine höhere Belastung für die verbleibende
       Belegschaft – ein Teufelskreis, [2][der zu einem Fachkräfte-Exodus aus dem
       Sozialbereich führe]. Vor allem die Situation der Auszubildenden müsse
       verbessert werden, damit sich die Situation nicht weiter verschärft.
       
       Auch an den [3][Berliner Schulen sieht es nicht viel besser aus]. „Die
       Kolleg*innen merken, dass sie im Alltag sehr viel mehr arbeiten, als
       offiziell erwartet wird“, heißt es in einer Pressemitteilung der
       Bildungsgewerkschaft GEW von Anfang September. Falsch liegen sie damit
       wohl nicht. Die Studie [4][„Arbeitszeiten und Arbeitsbelastungen von
       Lehrkräften in Deutschland“] kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis:
       Mit durchschnittlich 50 Arbeitsstunden pro Woche arbeite „eine Mehrheit
       der Lehrkräfte in Deutschland seit Jahrzehnten oberhalb
       arbeitszeitrechtlicher und tariflicher Normvorgaben“, so die
       Studienautoren.
       
       Diese Überbelastung ist nur möglich, weil die Arbeitszeiten an den Schulen
       nicht genau erfasst werden. Gezählt werden nur die Unterrichtsstunden, die
       Vor- und Nachbereitungzeit wird von Arbeitgeberseite gerne runtergerechnet.
       
       „Das einzige Mittel, das gegen unbezahlte Überstunden hilft, ist die
       elektronische Arbeitszeiterfassung“, sagt Linke-Politiker Valgolio. Diese
       erfolge in Echtzeit und sei nicht manipulierbar. Zwar sei
       Arbeitszeiterfassung schon heute Pflicht, allerdings könne diese auch zwei
       Wochen nachträglich erfolgen – was effektive Kontrollen, etwa auf
       Baustellen oder in Gastronomiebetrieben, unmöglich mache.
       
       2 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Fachkraeftemangel-in-der-Gastronomie/!5885785
   DIR [2] /Sozialarbeiter-ueber-Jugendhilfe/!5963222
   DIR [3] /Bildungsgewerkschaft-ueber-Lehrerinnenstreik/!5937970
   DIR [4] https://kooperationsstelle.uni-goettingen.de/dokumentation/forschungsstand-2022#c976
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Wahmkow
       
       ## TAGS
       
   DIR Sozialarbeit
   DIR Fachkräftemangel
   DIR Überstunden
   DIR Friedrich Merz
   DIR Lehrkräftemangel
   DIR Wochenendkrimi
   DIR Rezession
   DIR Mindestlohn
   DIR Kitas
   DIR Gastronomie
   DIR Demonstration
   DIR Gewerkschaft NGG
   DIR Schule
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR 13-Stunden-Arbeitstag in Griechenland: Bitte nicht!
       
       Griechenlands konservative Regierung kündigt ein Gesetz zur „Deregulierung
       der Arbeit“ an. Hoffentlich orientiert sich Deutschland nicht daran.
       
   DIR Lehrermangel in Berlin: Lehrkräfte extrem belastet und unzufrieden
       
       Laut einer Studie würden nur 20 Prozent der Lehrer*innen ihren Beruf
       weiterempfehlen. Andere Berufsgruppen sind im Vergleich deutlich
       zufriedener.
       
   DIR Berliner Immobilien Krimi: Von Sklaven und Insidern
       
       In „Tödliche Geheimnisse – Das Versprechen“ (ARD-Mediathek) zeigt sich
       Berlin von seiner hässlichen Seite. Es geht um schmutziges Geld am Bau.
       
   DIR Rekord-Erkältungen erzeugten Rezession: Krise durch Kranke
       
       Der rekordhohe Krankenstand ist für den Rückgang der Wirtschaftskraft in
       Deutschland 2023 verantwortlich. Ursache: Vor allem Erkältungskrankheiten.
       
   DIR Studie zu Lohngerechtigkeit: Altersarmut programmiert
       
       Mickrige Renten und Fachkräftemangel: Die Auswirkungen von Lohndumping sind
       gravierend, zeigt eine neue Studie der Gastro-Gewerkschaft NGG.
       
   DIR Krise in den Kitas: Die Kraftreserven sind aufgebraucht
       
       Kita-Fachkräfte wenden sich mit einer kollektiven Gefährdungsanzeige an den
       Senat. Sie fordern die Verbesserung ihrer Arbeitsverhältnisse.
       
   DIR Gastronomie in der Krise: Kunden schalten einen Gang zurück
       
       Gäste leisten sich weniger, das Personal fehlt, die Kosten steigen: Die
       Gastronomie erlebt nach der Pandemie magere Zeiten.
       
   DIR Sozialarbeiter demonstrieren in Berlin: An der Grenze der Belastbarkeit
       
       Mit einer großen Demo wollen Sozialarbeiter:innen am Samstag auf
       ihre Lage aufmerksam machen und sich für die Tarifverhandlungen warm
       laufen.
       
   DIR Untersuchung zu Jobs in der Gastronomie: Schlechte Jobs im Angebot
       
       In keiner Branche gibt es so viel geringfügige Beschäftigung wie in der
       Gastronomie, zeigt eine Analyse. Eine Verbesserung ist nicht in Sicht.
       
   DIR Bildungsgewerkschaft über Lehrer*innenstreik: „Abwärtsspirale stoppen“
       
       Die Bildungsgewerkschaft GEW fordert kleinere Klassen – trotz Lehrermangel.
       Wie soll das funktionieren? Fragen an Geschäftsführer Markus Hanisch.