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       # taz.de -- Buch „Spiele der Sprache“: Wittgenstein in Schlafliedern
       
       > Martin Seel bringt seiner Leserschaft den österreichischen Philosophen
       > näher. Dafür verortet er Wittgensteins Untersuchungen in der
       > Alltagssprache.
       
   IMG Bild: Philosoph Ludwig Wittgenstein, fotografiert im Jahr 1947
       
       Nach der Verteidigung seiner Doktorarbeit soll [1][Ludwig Wittgenstein] den
       Prüfern mitleidig auf die Schulter geklopft haben. „Nehmen Sie es nicht so
       schwer. Ich weiß, dass Sie es wohl nie verstehen werden“, sagte er
       angeblich zu niemand Geringerem als dem späteren Nobelpreisträger Bertrand
       Russell.
       
       Die Anekdote erfreut sich großer Beliebtheit bei all jenen, die sich in
       einem Werk zu orientieren versuchen, das zu den einflussreichsten, aber
       auch anspruchsvollsten des 20. Jahrhunderts zählt. Nicht nur ihnen sei
       Martin Seels „Spiele der Sprache“ wärmstens empfohlen.
       
       Denn dem emeritierten Philosophieprofessor gelingt etwas Hocherfreuliches.
       Er bringt Wittgenstein seiner Leserschaft nahe, aber nicht dadurch, dass er
       sein Publikum über Vereinfachungen heranführt.
       
       Seel verortet Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ vielmehr, ganz
       in dessen Sinne, in der Alltagssprache, in Sätzen, die ein jeder kennt, der
       sprechen, hören oder lesen kann. Er bringt Wittgenstein mithin dorthin, wo
       sein Werk am besten aufgehoben ist: im Gebrauch von Sprache.
       Alltagskommunikation, Schlaflieder, Gedichte und ihre Übersetzungen dienen
       dem Autor als Anlässe, Wittgensteins Theorie zu erklären und gegen ihre
       Kritiker zu verteidigen.
       
       ## Keine Werkeinführung, vielmehr eine Streitschrift
       
       Was als didaktische Methode beste Dienste leistet, ist dabei zugleich eine
       argumentative Strategie, denn sein Buch ist keine Werkeinführung, vielmehr
       eine Streitschrift. Seel will mit Wittgenstein einen ewigen Konflikt in der
       Sprachphilosophie auflösen. Zu Beginn ordnet er die Kontrahenten in diesem
       Disput an: Von Platon über Augustinus, Herder und Heidegger bis zu Adorno
       [2][und Habermas] tritt ein jeder auf, dem die Sprache in seiner
       Philosophie wichtig genug war, um Anspruch auf ein Wissen über ihre reine
       Verfasstheit zu erheben.
       
       Die Konfliktlinien verlaufen an Fragen wie diesen: Entstand die Sprache im
       Prozess einer Nachahmung der Natur, oder waren die Wörter von Anfang an
       völlig willkürlich gewählt? Was ist primär: die Regelhaftigkeit oder deren
       Missachtung im Verlauf des Sprechens?
       
       Ist der gerade Aussagesatz die Standardform oder muss diese auch die
       figürliche Rede einbeziehen? Das klingt reichlich akademisch und ist es
       natürlich auch. Seels Buch besteht zu großen Teilen aus der Kommentierung
       eines nur wenige Zeilen langen Paragrafen aus Wittgensteins zweitem
       Hauptwerk. Zum Ende hin ergibt sich eine durchaus praxisnahe, sogar
       politische Wendung.
       
       Der Autor plädiert für eine „demokratische“ Theorie, die Sprache nicht in
       eigentliche und uneigentliche Gebrauchsweisen einteilt. Sie sei vielmehr
       nur in ihrer Fülle und fortwährenden Varianz zu fassen. So ist auch der
       Titel des Buchs zu verstehen, der auf Wittgensteins „Sprachspiele“
       referiert.
       
       Der Begriff betont, dass ein Satz völlig andere Bedeutungen haben kann,
       abhängig zum Beispiel von der sozialen Situation, in der er fällt, von der
       Betonung oder auch von seiner Stellung in einem Textgefüge. Eine Äußerung
       befindet sich also immer im Spiel, sie ist nicht auf einen einzigen Sinn
       festgelegt. Seel seinerseits betont darüber hinaus eine weitere Bedeutung
       des Konzepts Spiel, das für ihn eng verbunden ist mit Freiheit und
       Unabhängigkeit.
       
       Implizit erteilt er all den Kritikern eine Absage, die gegen Jugendsprache,
       Anglizismen oder das Gendern und für eine korrekte oder reine Sprache
       streiten. Regeln sind für ihn nicht als Dogmen zu verstehen, sondern als
       Orientierungen und eben auch als Hindernisse, die es mitunter zu überwinden
       gilt. Sein Buch ist vor allem eine Aufforderung, Sprache nicht auf eine
       ihrer Funktionen zu reduzieren, sondern sie im Modus der Neugier, der
       Offenheit und der Freude zu erkunden und zu aktualisieren.
       
       23 Oct 2023
       
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