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       # taz.de -- Sorge um die israelischen Geiseln: „Sicherheit statt Rache“
       
       > Für viele Israelis hat die Befreiung der Geiseln höchste Priorität.
       > Einige fordern Verhandlungen statt Bomben. Doch es gibt auch radikale
       > Gegenstimmen.
       
   IMG Bild: Angehörige der vermissten 18-jährigen Liri Albag auf der Kaplanstraße in Tel Aviv am Samstag
       
       Als Avichai Brodetz in der Nacht zu Samstag nicht mehr wusste, wohin mit
       sich, beschloss er, etwas zu tun. Er schrieb das Wichtigste auf zwei Blatt
       Papier und kam mit einem weißen Plastikstuhl auf die Kaplanstraße in Tel
       Aviv – vor Israels Armeehauptquartier und mit Blick auf das
       Verteidigungsministerium. Auf dem ersten Blatt stand: “Meine Familie“. Auf
       dem zweiten: “ist in Gaza.“ Es war drei Uhr morgens.
       
       Mit Verwandten und Freunden habe der 44-Jährige mit den kurzen,
       graumelierten Haaren seit Tagen überlegt, was sie unternehmen könnten. Wie
       er seine Frau Hagar und die drei Kinder Ofri (10), Yuval (8) und Uriah (4)
       zurückholen könnte. „Ich war hilflos, aber ich wusste, dass hier die
       Entscheidungen getroffen werden“, sagt er mit einem Blick auf die eisernen
       Gittertore von der Armeebasis. Avichai will nicht mehr gehen, nicht ohne
       seine Frau und seine drei Kinder.
       
       Er ist nicht allein. Bis zum Morgen versammeln sich rund 30 andere, Freunde
       und Fremde, die selbst Angehörige vermissten oder schlicht helfen wollten.
       Bis zum Nachmittag haben sich mehr als einhundert Menschen Avichais Protest
       angeschlossen. Eineinhalb Wochen nach dem Überraschungsangriff der
       radikalislamischen Hamas warten noch immer viele Familien in Israel auf
       Informationen. Mindestens 1.400 Israelis sind bei dem tödlichsten Angriff
       in der Geschichte des Staates gestorben, die meisten von ihnen Zivilisten.
       
       Am Montag gab die Armee bekannt, dass sie die Angehörigen von 199
       Verschleppten benachrichtigt hatte. Darunter sind Soldaten und Zivilisten,
       junge und alte Menschen, Ausländer und Doppelstaatler – auch die 18-jährige
       Lira, die von ihrer Mutter Shira Albag vermisst wird: „Ich habe am Samstag
       des Überfalls zum letzten Mal mit meiner Tochter telefoniert“, erzählt
       Shira am Montag auf der Mahnwache. In der Hand hält sie ein Foto von Lira,
       einer jungen Frau mit Schirmmütze. Es sei ihr erster Tag des Wehrdienstes
       gewesen, den alle Frauen und Männer in Israel leisten müssen. „Sie wusste
       nicht einmal, wo der Schutzraum auf dem Posten ist. Sie hatte noch ihren
       Pyjama an“, sagt Shira.
       
       ## Die politische Krise? Vergessen
       
       Erst in einem Video auf Telegram erkennt sie ihre Tochter wieder, noch
       immer im Schlafanzug und in der Gewalt von Bewaffneten in Gaza. Seitdem
       nichts mehr. Für Hunderte Angehörige und Freunde sind die spärlichen
       Informationen eine Qual. Viele schaudert der Gedanke, dass dieselben
       Menschen, die bei dem Überfall Anfang Oktober mit erschreckender Brutalität
       mordeten und vergewaltigten, jetzt über Wohl und Wehe der Entführten
       entscheiden.
       
       Auf der Kaplanstraße, auf der bis zu dem Angriff neun Monate lang
       regelmäßig Massenproteste gegen den Umbau der Justitz stattfanden, hat die
       Gruppe Pavillons aufgebaut. Die politische Krise, die die israelische
       Gesellschaft monatelang gespalten hatte wie nie zuvor, scheint vergessen.
       
       Über etwaige Verhandlungen mit der Hamas ist kaum etwas bekannt. Laut dem
       Iran sei die Hamas möglicherweise bereit, Geiseln freizulassen, was die
       Terrorgruppe aber bisher laut Medienberichten nicht bestätigte. Das
       Internationale Komitee vom Roten Kreuz spricht nach eigenen Angaben „auf
       höchster Ebene“ mit der Hamas über Zugang zu den Entführten.
       
       [1][Katar] soll vergangene Woche über die Freilassung der Frauen und Kinder
       verhandelt haben. Die Hamas fordert die Freilassung aller von Israel
       gefangen gehaltenen Palästinenser. Laut der NGO Addameer sitzen rund 5.200
       Palästinenser in israelischen Gefängnissen, oft in Administrativhaft und
       ohne Anklage. Davon seien 33 Frauen und 170 Minderjährige.
       
       ## „Der Islam ist eine bamherzige Religion“
       
       Auch ist weiter unbekannt, wie viele Menschen von der Hamas entführt
       wurden. Ein Sprecher der Organisation teilte mit, es befänden sich bis zu
       250 Menschen in ihrer Gewalt – weit mehr als die 199, von denen Israel
       spricht. Auf israelischer Seite sind hingegen noch immer rund 350 Opfer
       nicht identifiziert.
       
       Im Zentrum für forensische Medizin in Tel Aviv etwa lagern Dutzende Leichen
       in schwarzen Plastiksäcken, während Forensiker und Freiwillige die
       Identität der oft verbrannten und verstümmelten Opfer herauszufinden
       versuchen. Für die Angehörigen gibt es keine Gewissheit: Wer noch nicht
       identifiziert wurde, könnte noch am Leben sein – in einem Versteck oder in
       Gaza.
       
       Zumindest für eine Familie gab es seit Montagabend Gewissheit. Die Hamas
       veröffentlichte erstmals ein Video einer jungen Frau. Zu sehen ist, wie ihr
       verletzter Arm behandelt wird. „Holt mich hier bitte so schnell wie möglich
       raus“, fleht sie in dem einminütigen Clip in die Kamera.
       
       Avichai und die anderen auf der Kaplanstraße hoffen, dass die Hamas ihre
       Angehörigen gut behandelt. Für die Extremisten sind sie eines der wenigen
       Druckmittel, das sie gegen Israels Rückschlag in der Hand haben. „Der Islam
       ist eine barmherzige Religion und die Hamas ist eine islamische
       Organisation“, sagt Avichai.
       
       ## Palästinenser freilassen? Heikel
       
       Er hoffe einfach, dass seine drei Kinder und seine Frau Hagar gut versorgt
       werden. „Mein vierjähriger Uriah ist ein kleiner Rabauke und manchmal nicht
       einfach, ich bin mir sicher, dass die Hamas ihn als Ersten tauschen wollen
       würde.“ Ein Versuch, die Situation mit etwas Humor erträglicher zu machen.
       
       Der Hamas bringen die Geiseln ein düsteres Faustpfand: Sie erhoffen sich
       von ihnen [2][Schutz vor dem israelischen Gegenangriff] sowie politischen
       Verhandlungsspielraum in dem Konflikt mit Israel. Die Tatsache, dass auch
       zahlreiche Menschen anderer Nationalitäten zu den Geiseln zählen, darunter
       17 Briten und 8 Deutsche, ermöglicht der Hamas Forderungen auf höchster
       Ebene bei anderen Ländern. Geiselnahmen zählen nicht ohne Grund zu den
       effektivsten – und schlimmsten – Mitteln asymmetrischer Kriegsführung.
       
       Zudem hat Israel in der Vergangenheit oft große Zugeständnisse gemacht, um
       eigene Staatsbürger zu befreien. 1985 ließ es 1.150 Palästinenser im
       Austausch für 3 gefangene israelische Soldaten frei. 2011 wurde der
       [3][Soldat Gilad Shalit] nach fünf Jahren in Händen der Hamas gegen mehr
       als 1.000 palästinensische Gefangene ausgetauscht.
       
       Die Frage, ob ein Gefangenenaustausch erneut infrage kommt, sorgt auch
       angesichts dieser Geschichte in Israel für Streit. Viele der 2011
       Freigelassenen waren danach in der Hamas aufgestiegen, unter ihnen der
       derzeitige militärische [4][Anführer Jahia Sinwar].
       
       ## Geiseln unter den Toten?
       
       Die heftige Reaktion der israelischen Armee, die den Gazastreifen seit dem
       Beginn der Angriffe massiv bombardiert, mag die Hamasführung daher
       überrascht haben. Mehr als 2.800 Menschen wurden in Gaza getötet. Zudem
       hatte Israel den Küstenstreifen zwischenzeitlich von jeglicher
       Grundversorgung mit Wasser, Strom und Nahrungsmitteln abgeschnitten, um die
       Rückgabe der Geiseln zu erzwingen.
       
       Bei den Angriffen sollen laut Angaben der Hamas 22 Geiseln getötet worden
       sein. Die Angaben lassen sich nicht verifizieren. Israelische Soldaten
       fanden jedoch bei einem Vorstoß am Freitag die Leichen mehrerer Geiseln.
       Aktuell rechnen manche mit einem Einmarsch mit Bodentruppen.
       
       Auf der Mahnwache an der Kaplanstraße sorgt die Frage nach der richtigen
       Strategie für Diskussionen. „Wir vertrauen darauf, dass sie die richtigen
       Entscheidungen treffen“, sagt Rotem Sippori, die die Eltern einer Freundin
       in Gaza vermutet. „Aber wir wissen gerade nicht, ob es ihnen wichtiger ist,
       die Hamas zu zerstören oder die Gefangenen dort rauszuholen.“
       
       Avichai, der unermüdlich einem Fernsehteam nach dem nächsten seine
       Geschichte erzählt, setzt sich in einer Pause kurz auf seinen Stuhl. Der
       Gedanke an einen Einmarsch gefalle ihm nicht. „Alles, was Tod bringt, macht
       mir Angst“, sagt er. Er sei aber kein Militärstratege. „Ich möchte nur,
       dass die, die da drinnen entscheiden, als Erstes an meine Frau und meine
       Kinder und all die anderen denken.“
       
       ## Als „Linke Verräter“ geschmäht
       
       Die kleinen Mahnwachen auf der Kaplanstraße sind ein Spiegel für das, was
       in Israel in diesen Tagen viel diskutiert wird: Was ist die richtige
       Reaktion auf den blutigen Überfall der Hamas? „Was soll denn werden, wenn
       Gaza zerstört ist?“, fragt Sindy Cohen. „Wo sollen die 2 Millionen Bewohner
       von Gaza hin?“ Auf dem Schild der 65-Jährigen steht „Sicherheit statt
       Rache“. Was die Hamas getan habe, sei ein furchtbares Verbrechen. Für
       Sicherheit in Israel aber brauche es eine politische Lösung.
       
       Das sehen nicht alle so. Am Nachmittag eskaliert ein Streit zwischen einem
       Passanten und dem Vater von Liri Albag. Der Mann hatte die Mahnwache mit
       den Worten „Linke Verräter!“ beschimpft und den Vater angegriffen und ihm
       an den Kopf geworfen: „Es ist mir egal, soll sie doch mit dir sterben.“
       
       Ein Stück die Straße hinauf haben rechtsextreme Siedler einen kleinen
       Pavillon aufgebaut und fordern, bei dem Schlag gegen die Hamas im Zweifel
       die Rücksicht auf das Leben der Geiseln zugunsten der [5][Zerstörung der
       Hamas] zurückzustellen. Ähnlich hatte sich Finanzminister Bezalel Smotrich,
       der ebenfalls zur Siedlerbewegung gehört, bereits am Samstag vor einer
       Woche geäußert.
       
       Doch es gibt auch andere Bilder. So warfen Überlebende des Massakers im
       Kibbuz Nir Oz die nationalreligiöse Ministerin für Siedlungsbau, Orit
       Struck, aus dem Hotel in Eilat, in dem sie übergangsweise wohnen. Auf dem
       Video ist ein Mann zu hören, der ihr zuruft: „Wie können Sie es wagen
       hierherzukommen … niemand will Sie hier.“
       
       Avichai versucht, sich aus den politischen Auseinandersetzungen
       herauszuhalten. „Ich habe mich nie für Politik interessiert, ich wollte
       nie, dass mein Gesicht bekannt wird“, sagt er. Er wünsche sich nur, zu
       seinem Leben als Landwirt und Pfleger zurückzukehren. Wenn er seine Familie
       zurückhabe, werde er von der Bildfläche verschwinden.
       
       18 Oct 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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