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       # taz.de -- Tagebuch von der Frankfurter Buchmesse: Red mal über Ostdeutschland!
       
       > Die deutsche Literatur schaut gern gen Osten, damals wie heute. Auch
       > unser Autor tut das, obwohl – oder gerade weil – er nach der Wende
       > geboren wurde.
       
   IMG Bild: Für den Publikumsverkehr geffnet: Blick in eine Halle der Frankfurter Buchmesse
       
       Heute startet die Messe für den Publikumsverkehr. Gleich soll ich auf einer
       Bühne als Nachwendekind [1][aus dem Osten über den Osten reden]. Und jetzt
       geht mir eine Frage der letzten Tage nicht aus dem Kopf: „Das sollte für
       Sie doch eigentlich kein Thema mehr sein, oder?“
       
       Dazu kam es so: Am Mittwoch bin ich beim Suhrkamp-Empfang in der
       Unseld-Villa. Im Haus stehen überall Autor:innen und
       Journalist:innen und an jeder Ecke stehen Kellner:innen mit weißen
       Blusen, grauen Schürzen und vollen Getränketabletts umher. Draußen wird
       geraucht. An einer Wand hängt ein Goethe-Gemälde von Andy Warhol und alle
       Wände sind voll mit Büchern von Hermann Hesse, Bertolt Brecht und in einem
       Regal: die berühmten bunten Taschenbuchreihen. Im Nebenraum: eine Bar und
       ein riesiger Tisch mit gefühlt 80 verschiedenen Käsesorten, Weintrauben und
       Brot.
       
       Als ich draußen auf der Treppe vor dem Garten der Villa rauche, zeigt eine
       Autorin auf die Treppe und sagt: „Aron, hier stehst du richtig, hier
       passieren jedes Jahr die tollsten und unerwartetsten Dinge.“
       
       Bevor ich etwas sagen kann, gehen alle rein und auf einmal sitzt da einfach
       Didier Eribon, der mit einer deutschen Übersetzerin sein kommendes Buch bei
       Suhrkamp vorstellt. Die Person, die netterweise dafür gesorgt hat, dass ich
       hier sein darf, hat davon nichts erzählt, und ich notiere in mein Handy
       unter eine selbstzweifelnde Nebennotiz vom Messealltag: „Korrektur, [2][ich
       finde alles geil hier!“]
       
       ## Das Mysterium der Treppe
       
       Als ich später auf der Messe einem Verleger von dem Empfang erzähle,
       erklärte er mir neben der Treppe ein weiteres Mysterium dieses Hauses: Man
       stehe da und wie durch Zauberhand und ohne etwas zu merken, wird einem das
       Weinglas immer wieder neu aufgefüllt. Jedenfalls stehe ich eine Weile vor
       einer Schlange Leute vor dem Bereich, wo Eribon steht, weil ich ihm gern
       einfach sagen will, dass ich ihn super finde.
       
       Nach zwei Minuten prostet mir eine Frau ungefähr Mitte 50, mit Mantel,
       Brille und Rotweinglas zu und fragt mich fröhlich, wer ich bin und was ich
       hier mache. Zigarette?
       
       Dann reden wir auf besagter berühmter Treppe und tatsächlich erfüllt die
       ihren Zauber und zack, stecken wir genau hier in Frankfurt, nach einer
       Lesung von Didier Eribon, mittendrin in einem Gespräch über den Osten:
       „Wenn ich mit Leuten in meiner Heimatstadt Hamburg spreche, die aus der DDR
       hierhergekommen sind, dann sagen die mir, dass das für die gar kein Thema
       mehr ist!“, sagt sie interessiert. „Und das sollte dann ja für Ihre
       Generation auch gar kein Thema mehr sein, oder nicht?“
       
       Gleichzeitig schreiben aber super viele in meiner Generation jetzt darüber.
       Und damit zurück ins Jetzt: Im Gespräch auf der Messe geht es gleich um das
       Buch [3][„Gittersee“ von Charlotte Gneuß]. Ein Buch über eine junge Frau,
       die Mitte der Siebzigerjahre 16 Jahre alt ist, deren Partner Republikflucht
       begeht und die dadurch in die Maschinerie der Stasi gerät.
       
       ## Neuer Vibe in der Ost-West-Thematik
       
       Charlotte Gneuß ist 1992, zwar fünf Jahre vor mir, aber auch nach der Wende
       geboren. Sie hat die Teilung nicht miterlebt. Aber wie sie über die
       Alltagsmenschen, die Nachbar:innen und Lehrer:innen schreibt, holt
       mich das sofort in meine Schulzeit zurück. Mit den Gebäuden aus der
       DDR-Zeit und den Lehrer:innen, die noch in diesem Land ausgebildet worden.
       
       Ich denke wieder an die Frage der Journalistin. Das Thema Ost und West wird
       doch jetzt gerade richtig spannend, denke ich. Gerade jetzt, wo eine von
       älteren Bundesrepublikaner:innen und älteren DDR-Bürger:innnen
       sozialisierte und schreibende gesamtdeutsche Generation immer mehr Bücher
       vorlegt, bildet sich ein ganz neuer Diskurs. Einer, der einen ganz neuen
       Vibe in die Ost-West-Thematik bringen könnte.
       
       Denn jetzt sprechen mehr und mehr Menschen, die keine Sekunde ihres Lebens
       selbst in einer Hälfte des geteilten Deutschlands verbracht und die den
       Kalten Krieg nicht miterlebt haben. Leute, die sich ein Land
       rekonstruieren, das es nicht mehr gibt – mit der Betrachtung der heute
       Älteren und damals Jungen und sich selbst in der Gegenwart. So wie
       Charlotte Gneuß das macht, denke ich. 
       
       Aber kurz vor der Besprechung kurze Panik, wegen zu später Recherche:
       Gneuß' Großmütter haben zwar in der DDR gelebt, aber sie ist im Westen
       geboren. Das nahm ein älterer ostdeutscher Schriftsteller dann zum Anlass,
       auf „Fehler“ in ihrem Buch hinzuweisen. Zum Beispiel wäre es damals im
       Osten extrem unüblich gewesen, „lecker“ zu sagen. Die Folge: der Anflug
       einer Debatte, wer über die DDR schreiben solle und wer nicht. Ich rufe
       meine Oma an. Sie war zum Handlungszeitpunkt von Gneuß' Romanheldin Mitte
       20.
       
       ## Lecker oder was?
       
       „Habt ihr damals das Wort lecker in der [4][DDR] benutzt?“ 
       
       „Aron, es ist acht Uhr morgens …“
       
       „Oma, es geht hier um was!“, sage ich und erzähle ihr alles. „Doch, wir
       haben damals lecker gesagt“, sagt sie schließlich und erzählt mit Hingabe
       vom ersten Quarkdessert der DDR – dem „Leckermäulchen“ – als ginge es dabei
       um ihre erste Jugendliebe.
       
       Parallel google ich den ganzen Debattenkomplex, und mir fällt auf, dass der
       kritische, ältere Schriftsteller Gneuß' Buch trotz allem sehr gelobt hat
       und dass das „Leckermäulchen“ erst 1977 auf den Markt kam – Gneuß' Roman
       spielt aber 1976. Der Diskurs um das Wort „lecker“ bleibt ungeklärt, denke
       ich. Dann lese ich, dass sich Charlotte Gneuß in einem Interview mit der
       FAZ selbst zu der Sache äußert.
       
       Dort wird auch klar, dass sie zwar nicht im Osten geboren ist, ihre Eltern
       aber eben schon. Diese durften in der DDR nicht studieren, sind ausgereist,
       ihre Onkel saßen in Haft und zudem gab es in ihrer Familie eine
       Republikflucht mit einem Todesfall, der in diesem Zusammenhang, der noch
       immer ungeklärt ist. Und von ihren Eltern habe sie erfahren, dass das Leben
       in Dresdner Vororten (wie dem titelgebenden Gittersee), anders war als in
       der Stadt des Kritikers und man da eben „lecker“ gesagt habe und drüber
       hinaus würde sie für ihren Roman nicht zwingend ausschließlich Worte aus
       der damaligen Zeit benutzen – einfach um auf die Gegenwärtigkeit ihres
       Stoffes zu verweisen.
       
       „Natürlich war das personenabhängig, lecker zu sagen, was weiß ich denn,
       aber dass man sich jetzt an so einem Scheiß hochzieht“, unterbricht meine
       Oma meine Gedanken. „Es gibt doch bei dem Thema viel wichtigere Dinge zu
       besprechen!“
       
       Auf dem Weg zu den Messehallen fällt mir ein, dass ich ganz vergessen habe
       zu fragen, was das alles für Dinge sein könnten. Aber am besten schreiben
       einfach möglichst viele darüber.
       
       Aron Boks, 1997 geboren, lebt als Autor in Berlin. Er schreibt für diverse
       Zeitungen und Magazine. Zuletzt erschien das Buch „Nackt in der DDR“ über
       seinen Urgroßonkel, den Maler Willi Sitte (Verlag HarperCollins). Das
       Messetagebuch wird finanziert von der taz Panterstiftung.
       
       20 Oct 2023
       
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