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       # taz.de -- Nahost-Diskurs seit 7. Oktober: Die neue Logik der Einseitigkeit
       
       > Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober hat sich der Diskurs zum
       > Nahostkonflikt zugunsten von Terroristen verschoben. Ein schrecklicher
       > Zustand.
       
   IMG Bild: Patronenhülsen und Reste eines elektronischen Gerätes nach dem Hamas-Angriff im Kibbuz Kfar Aza
       
       Dass das Massaker der Hamas am 7. Oktober für die Menschen in Israel und
       die israelische Antwort für die Menschen in Gaza eine Zäsur bedeutet, ist
       klar. Die Ereignisse sind aber in gewisser Weise auch eine Zäsur für die
       Beobachter von außerhalb. Diese Zäsur besteht darin, eine neue
       Eindeutigkeit zu erzwingen.
       
       Für die einseitige Pro-Palästina-Fraktion ist diese nicht neu. Für die
       einseitige Pro-Israel-Fraktion ebenso wenig. Neu ist solch eine
       Eindeutigkeit hingegen für all jene, die bisher kritische, aber nicht
       feindliche Beobachter waren. Kritisch gegenüber Netanjahus Politik,
       gegenüber der israelischen Siedlungspolitik, gegenüber dem Umgang mit den
       Palästinensern.
       
       Jene, [1][die bisher die Komplexität der Situation im Blick hatten]. Die
       dem Existenzrecht Israels genauso gerecht werden wollten wie der Situation
       der Palästinenser. Jene sehen sich mit dem konfrontiert, was eine
       terroristische Logik ist: eine Logik der Einseitigkeit, der
       Nichtambivalenz, der parteiischen Eindeutigkeit. Ein Entweder-oder. Ohne
       Bedenken, ohne Mehrdeutigkeiten. Entweder oder. Dafür oder dagegen. Eine
       Logik, die heute die Diskussionen beherrscht. Weltweit. Bis in die
       kleinsten Fugen der sozialen Netzwerke.
       
       ## Nur noch Haltung
       
       So bestimmen die religiösen Extremisten den Diskurs: [2][Sie haben den
       Konflikt in die Logik von Ausschließlichkeit verlagert. Diese ist jetzt
       bestimmend. Auch für die Diskussionen hierzulande.] Insbesondere für jene
       der Linken. Für eine Linke, die keine Alternativen mehr hat – nur noch
       Haltungen. Für eine Linke, deren zentrale Kategorie heute das Opfer ist.
       Das ist eine ganz andere Kategorie als etwa die Ausgebeuteten.
       
       Es gebe, so Omri Boehm in einem Interview, zwei konkurrierende
       Vorstellungen einer „ultimativen Verkörperung“ des Opferseins: Juden und
       Palästinenser – beide mit einer langen Opfergeschichte. Die zwei linken
       Haltungen zum Nahost-Konflikt entsprechen genau diesen beiden
       Vorstellungen. Auf der Pro-Israel-Seite findet man eine Wiederbelebung des
       Narrativs der Juden als ewige Opfer.
       
       Eine Vorstellung, die schon lange nur mehr retrospektiv gegolten hat – mit
       Blick auf die Schoah. Die jetzigen Opfer in Israel werden unmittelbar in
       diese Vorstellung eingereiht. Und so verknüpft sich die aktuelle
       Erschütterung nahtlos mit dem Abtragen des schlechten Gewissens der
       Täter-Erben. Hier ist die linke Reaktion eins mit dem Mainstream der
       öffentlichen Meinung.
       
       ## Schuldgefühle entsorgen
       
       Spiegelverkehrt schleudern die Verfechter der Palästinenser als „ultimative
       Opfer“ den anderen entgegen: „Free Palestine from German guilt!“ In
       Palästina sei nicht die deutsche Schuld abzutragen. Das hat mehrere
       Vorteile: Man ist gegen den Mainstream, gegen die Juden als Opfer und
       entsorgt auch noch die eigenen Schuldgefühle. Diesmal nicht durch Empathie,
       sondern durch Empathielosigkeit. Das Mitgefühl bleibt exklusiv den
       geschundenen Gazabewohnern vorbehalten.
       
       Das folgt der terroristischen Logik der Eindeutigkeit – denn diese
       Opferkonzeption beruht auf einer solchen: auf der unerschütterlichen
       Eindeutigkeit, wer Opfer und wer Täter ist. Sie beruht auf der Vorstellung
       eines reinen Opfers – dem ein eindeutiger Täter gegenübersteht. Ein ebenso
       eindeutiger wie einfacher Gegensatz. Als hätte es nie eine Dialektik
       gegeben.
       
       In dieser Vorstellung sind die Kategorien im Nahen Osten klar verteilt. Die
       Palästinenser sind die Opfer und die Israelis die Täter. Nicht dass das
       nicht stimmen würde. Ein Stück weit. Aber wenn Ereignisse wie die aktuellen
       den Kategorien widersprechen – wenn Israelis zu Opfern und Palästinenser zu
       Tätern werden.
       
       ## Umso schlimmer!
       
       Mehr noch: Wenn Israelis Opfer und Täter – und Palästinenser sowohl
       Attentäter als auch Leidende in Gaza sind. Wenn also die Einteilung durch
       die Geschehnisse untergraben wird, dann wirkt diese linke Reaktion wie die
       Paraphrase eines alten Ausrufs: umso schlimmer für die Ereignisse!
       
       [3][Man lässt sich von den Ereignissen doch nicht die Reinheit der
       Kategorien erschüttern.] Eine Reinheit, die dazu führt, die Hamas der Seite
       der Opfer zuzurechnen. Eine eigene Verhaftung mit der terroristischen
       Logik.
       
       23 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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