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       # taz.de -- Die Lieder von Nico mit Streichern: Die Sehnsucht und die Einsamkeit
       
       > Nico ist auch deutsches Kulturgut. In einem Allerseelen-Programm
       > interpretieren Kaleidoskop und Anika ihre wehen und todessehnsüchtigen
       > Lieder.
       
   IMG Bild: Multiple Persönlichkeit: manchmal ist Annika Henderson alias Anika auch Nico
       
       Das Befinden derzeit und im November ist doch meist gedämpft, alles eher
       grau statt Hawaiihemd. Aber so eine gedämpfte Grundstimmung lässt sich
       allemal noch weiter runterkühlen.
       
       Diese Woche hatte man dafür ein Konzert im Angebot, das 1.) an Allerseelen,
       dem Totengedenktag stattfand mit 2.) einer absoluten Runterziehmusik in 3.)
       [1][einem Krematorium], was in dieser Reihenfolge eigentlich schon reichen
       sollte für eine angemessen novemberlich gedeckte Stimmung. Es hätte also
       nicht unbedingt auch noch regnen müssen auf dem Weg zu dem Konzert im
       Silent Green.
       
       Tat es aber. Das ermöglichte den Autofahrern, die Radler – darunter auch
       mich – auf den nächtlichen Straßen Berlins ein wenig nass zu spritzen.
       Dafür ist das Silent Green in Wedding gar kein richtiges Krematorium mehr,
       mit dem Tod hat man nur noch entfernt zu tun. Stattdessen werden hier nun
       gern einigermaßen ausgefallene Musiken aufgeführt. An dem Abend war es die
       von Nico, die 1988 verstorbene und [2][als Christa Päffgen geborene
       Sängerin]. Irgendwie ist sie immer ein dunkler Geheimtipp geblieben.
       
       Deswegen ihr schillerndes Leben wenigstens in Stichpunkten: Kriegskind in
       Berlin, Model in Paris, sie spielte in Fellinis „La Dolce Vita“, sang auf
       dem ersten [3][Album von Velvet Underground], Leonard Cohen war unglücklich
       in sie verliebt, mit Alain Delon, der die Vaterschaft bestreitet, hatte sie
       ein Kind: einen Sohn, den sie als Junkie später, heißt es, an die Nadel
       brachte, was auch in drogenpositiven Kreisen nicht unbedingt als eine
       sonderlich geglückte elterliche Aufklärung über Drogen betrachtet wird.
       
       Vielleicht will man noch wissen, dass die Vogue Nico 2017 auf Platz 1 der
       „einflussreichsten Rock-Blondinen aller Zeiten“ wählte.
       
       ## Prägend für Gothic
       
       Mit ihrem am Harmonium modulierten dunklen Klagegesang war sie auch prägend
       für Gothic, wo man halt der Nacht allemal mehr huldigt als dem Tag. Schwarz
       schlägt bunt. Und in diesem Dunkel ist bei Nico vielleicht weit weg mal das
       kalte Licht eines Sterns zu sehen.
       
       Eine klamme Musik. Rührend in der Schutzlosigkeit. In ihren Liedern ist
       Nico auch so ein kleines Mädchen mit den Schwefelhölzern, allein, hilflos,
       wie in dem Märchen von Hans Christian Andersen. Sie singt: „Liebes kleines
       Mütterlein, nun darf ich endlich bei dir sein. Die Sehnsucht und die
       Einsamkeit erlösen sich in Seligkeit.“
       
       Das alles mit dem Schwarz und der todessehnsüchtigen Weh ist jetzt nicht
       gerade ein ausgewiesener Soundtrack der Gemütlichkeit. Aber halt doch
       deutsches Kulturgut, wie Goethe oder Beethoven, das vom Berliner
       Solistenensemble Kaleidoskop, das sich gern bei den unterschiedlichsten
       Musiken umhört, adaptiert wurde.
       
       Bevor aber deren Interpretation des 1970 erschienenen Nico-Albums
       „Desertshore“ (mit dem „Mütterlein“-Lied) auf die Bühne gebracht wurde,
       spielten die MusikerInnen zuerst ein sehr an Sounds interessiertes
       spitz-splittriges Avantgardemusikstück des polnischen Komponisten Witold
       Lutosławski.
       
       Eine höchst anregende Musik, wegen der an diesem Abend aber nur
       Lutosławski-Hardcorefans in die Betongruft des Silent Green gekommen sind –
       also wahrscheinlich niemand. Es war ausverkauft. 400 Menschen warteten auf
       Nico.
       
       ## Manchmal fast gemütlich
       
       Beziehungsweise auf das, was Kaleidoskop mit der [4][Sängerin Anika] aus
       Nicos Vorgaben machen würden. Und Anika machte die Sache durchaus gut und
       wahrscheinlich sogar besser als Nico, die letztlich nur recht eingeschränkt
       singen konnte. Aber nach der Lutosławski-Komplexität wirkte die Musik – und
       die MusikerInnen dazu – im zweiten Teil des Abends etwas unterfordert, auch
       weil man das Quengeln und das Beschädigte in Nicos Musik gar nicht
       verstärken wollte. Stattdessen klang es eher so, als müsse man das Schwarz
       der Lieder mit ein paar aufgesteckten Kerzen heimeliger machen.
       
       Aufgeplüscht mit den Streichern hörte sich dieser Liederabend manchmal fast
       gemütlich, wie eine Kaffeehausmusik.
       
       „So nett“, meinte mein Sitznachbar. „Zu nett.“
       
       Wenigstens regnete es für die novemberliche Stimmung draußen noch.
       
       3 Nov 2023
       
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