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       # taz.de -- Forschungsteam über Behandlung von MS: „Ein Zucker als Wirkstoff“
       
       > Ein Team der Medizinischen Hochschule Hannover hat einen neuen Wirkstoff
       > zur Behandlung von Multipler Sklerose entdeckt: den Zucker
       > Polysialinsäure.
       
   IMG Bild: Ein Zucker, der hilft: Polysialinsäure auf dem Modell eines Gehirns in der Medizinischen Hochschule Hannover
       
       taz: Frau Schröder, Herr Thiesler, Sie forschen zu Multipler Sklerose (MS).
       Was ist das für eine Krankheit? 
       
       Lara-Jasmin Schröder: Das Krankheitsbild ist unglaublich heterogen. Unsere
       typische Patientin ist weiblich und zwischen 20 und 40. Die Symptome sind
       verschieden und erst mal sehr unspezifisch: Einschränkung der Sehkraft,
       Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme, unruhiger Schlaf. MS schädigt die
       Neuronen, die Nervenzellen, zunächst über das Myelin. Das Myelin liegt um
       die Neuronen herum, schützt sie und sorgt bei gesunden Menschen dafür, dass
       die Übertragung der elektrischen Signale in unserem Kopf und alles
       Kognitive funktioniert.
       
       Hauke Thiesler: Das körpereigene Myelin wird bei MS durch Antikörper
       markiert und in der Folge angegriffen. Dabei entsteht eine Entzündung.
       Diese Entgleisung des Immunsystems, eine dem Körper zugehörige Struktur
       anzugreifen, ist nicht normal. Das ist, was MS als Autoimmunerkrankung
       auszeichnet.
       
       Wieso bekommen manche Menschen MS? 
       
       Schröder: Bei der MS haben wir immer ein Zusammenspiel von Genetik und
       Umwelteinflüssen. Aber am Ende wissen wir immer noch nicht genau, wie es
       dazu kommt.
       
       Thiesler: Bei den Umwelteinflüssen zeigen sich bisher zwei Achsen: Kontakt
       mit Viren, die das Immunsystem nachhaltig beeinflussen, sowie das
       Mikrobiom. Alle MS- PatientInnen haben eine nachgewiesene frühere Infektion
       mit dem Epstein-Barr-Virus. Die Korrelation ist auffällig und die Datenlage
       sehr gut: Erst Kontakt mit EBV, dann MS. Zweitens scheint es gewisse Keime
       in der Darmflora zu geben, die zumindest bei Mäusen eine entzündliche
       Enzephalitis, also Hirnhautentzündung, auslösen können. Hier muss man aber
       vorsichtig sein, das sind nur erste Daten.
       
       MS verläuft in Schüben. Werden auch sie durch Umwelteinflüsse ausgelöst? 
       
       Schröder: Mit Autoimmunkrankheiten ist es so: Es kommt immer von innen. Die
       Frequenz, die Stärke und Zeitpunkt des nächsten Schubs können wir nicht
       steuern oder erahnen. Molekulare Auslöser sind bisher wenig bekannt. Ein
       Schub beginnt mit einer starken autoreaktiven Wirkung. Das heißt, er kommt
       nicht von außen, etwa durch Erkältungsviren, sondern die Immunzellen
       aktivieren sich von allein. Und sie werden aggressiv gegen die Nervenzellen
       im eigenen Körper.
       
       Lassen sich die von [1][Multipler Sklerose] geschädigten Nerven nicht
       heilen? 
       
       Schröder: Derzeit haben wir im Grunde nur einen progressiven Abbau. Sobald
       die Nervenzellen weiter angefressen sind, verschlimmern sich die Symptome
       und die PatientInnnen bekommen motorische Schädigungen. Wir können das
       isolierende Myelin um die Neuronen noch nicht regenerieren. Aber wir sind
       gut aufgestellt, was die Kontrolle des Schubs angeht und können die
       Symptomstärke herunterfahren: Akut mit Entzündungshemmern, auf lange Sicht
       ist das aber keine Therapie für den MS-Schub. Im späteren Verlauf gibt es
       Immunmodulatoren, die das Immunsystem hemmen. Das geht mit starken
       Konsequenzen für die PatientInnen einher.
       
       Thiesler: Am Anfang müssen die Myelintrümmer weggeräumt werden, das ist
       Teil der Entzündungsreaktion. Aber es ist sehr wichtig, dass diese
       Entzündung aufgelöst wird, und hier liegt das Problem: Das Hirn ist
       entzündet, und es hört einfach nicht auf.
       
       Und diese Entzündung im Gehirn erforschen Sie? 
       
       Thiesler: Hirn und Rückenmark sind das Zentralnervensystem, den Rest nennt
       man „Peripherie“, weil es sozusagen draußen liegt. Im Gehirn gibt es nur
       eine Immunzellpopulation – die Mikroglia. Deshalb müssen die ganz viele
       Aufgaben übernehmen, die in der Peripherie auf Spezial-Zelltypen verteilt
       werden.
       
       Schröder: Die Mikroglia sind die Fraßzellen im Gehirn und nehmen während
       der Entzündung das tote Myelin auf. Aber es wird immer deutlicher, dass sie
       auch die Regeneration mitsteuern. Unser Forschungsansatz ist es, den
       natürlichen Prozess anzustoßen, bei dem sich diese Zellen der Regeneration,
       also der Begünstigung der Remyelinisierung zuwenden.
       
       Wie bringt man Mikrogliazellen dazu, Nervenzellen zu reparieren? 
       
       Thiesler: Wenn Mikroglia in der Entzündungsreaktion aktiviert sind, können
       sie einen Zucker – die Polysialinsäure – abgeben und sich damit selbst
       dämpfen. Das nutzen wir und treiben es ins Extreme.
       
       Sie nutzen diesen Zucker als Wirkstoff? 
       
       Thiesler: Ja. Es gibt Bakterien, die über eine Kapsel aus diesem Zucker
       verfügen, sodass das Immunsystem sie schwer erkennt. So eine Zucker- bzw.
       Polysialinsäure-Kapsel haben wir genutzt, um für unser Experiment die
       richtigen Kettenlängen des Zuckermoleküls herzustellen. Und zusätzlich zu
       kurze als Kontrolle.
       
       Was haben Sie dann mit diesem Wirkstoff gemacht? 
       
       Schröder: Wir haben ein vereinfachtes Modell mit Hirnschnitten von Mäusen
       genutzt, deren Gewebe wir ähnlich wie bei einem MS-Schub demyelinisieren.
       Dann haben wir besagte Polysialinsäure dazugegeben und gesehen, dass sich
       die Mikroglia zu einer schnelleren [2][Auflösung der Entzündung] anstupsen
       lassen.
       
       Thiesler: Und auch, dass man dadurch anscheinend das komplette Potential
       zur Remyelinisierung freisetzt!
       
       Im Labor können Sie das schützende Myelin mithilfe der Mikrogliazellen also
       wieder aufbauen. Was heißt das für die MS-Therapie? 
       
       Thiesler: Wir haben einen vielversprechenden Ansatzpunkt, der sich
       fundamental von anderen neuen Strategien zur Regeneration abhebt: Wir
       nehmen einfach einen Zucker. Perspektivisch nehmen wir an, dass das einen
       kostengünstigen Ansatz zur Regeneration darstellen könnte, der die
       bestehende Therapie ergänzen könnte.
       
       Könnte das eine Lücke in der Therapie füllen? 
       
       Schröder: Nicht nur die peripheren Immunzellen, sondern auch Mikroglia für
       die MS-Therapie zu nutzen, ist brandneu. Natürlich arbeiten unsere Kollegen
       weltweit auch an anderen Regenerationsmechanismen, und Mikroglia sind
       gerade das heiße Target.
       
       Wie kommt man von der [3][Grundlagenforschung] zur Therapie? 
       
       Schröder: Wir rechnen bis zum Start der ersten klinischen Studie mit
       menschlichen Probanden mit mindestens acht bis zehn Jahren.
       
       Thiesler: Voraussetzung sind finanzielle Mittel, die die nächsten Schritte
       ermöglichen. Der Bedarf ist da.
       
       24 Dec 2023
       
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