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       # taz.de -- Justiz in der Türkei: Angriff auf das Verfassungsgericht
       
       > Das Oberste Berufungsgericht strebt Ermittlungen gegen die
       > Verfassungshüter an. Das hat die Klage eines inhaftierten linken
       > Abgeordneten ausgelöst.
       
   IMG Bild: Unterstützer-Kundgebung für Can Atalay im Juni in Izmir
       
       Berlin taz | Die Türkei steuert auf eine Verfassungskrise zu. Das oberste
       Berufungsgericht für Strafsachen, Yargetay, will ein Urteil des
       Verfassungsgerichts nicht nur nicht anerkennen, sondern hat den
       Generalstaatsanwalt beauftragt, Ermittlungen gegen die Mitglieder des
       Verfassungsgerichts aufzunehmen, weil diese ihre Befugnisse überschritten
       hätten. Damit, so Ex-Premier Ahmet Davutoğlu, stehe die Existenz des
       Verfassungsgerichts auf dem Spiel. Er sprach von einem „Putsch gegen den
       Rechtsstaat und die Demokratie“. Die Opposition will gegen diesen
       „Justizputsch“, wie [1][der neue Chef der CHP, Özgür Özel] sagte, vorgehen.
       
       Anlass für den Versuch, das Verfassungsgericht auszuhebeln, ist eine
       Entscheidung der Verfassungsrichter in der Sache des linken Abgeordneten
       Can Atalay. Atalay wurde [2][bei der Parlamentswahl am 14. Mai] für die
       türkische Arbeiterpartei TIP als Abgeordneter der Provinz Hatay ins
       Parlament gewählt.
       
       Allerdings sitzt Can Atalay im Gefängnis und konnte deshalb sein Amt nicht
       antreten. Er wurde im Rahmen des Gezi-Prozesses wegen eines angeblich
       versuchten Staatsumsturzes mit anderen prominenten Oppositionellen zu 18
       Jahren Haft verurteilt. Zum Zeitpunkt der Wahl war dieses Urteil noch nicht
       rechtskräftig.
       
       Atalay strengte vor dem Verfassungsgericht eine Individualklage an und
       bekam recht. Am 25. Oktober beschied das Verfassungsgericht, Can Atalays
       Rechte als gewählter Abgeordneter seien unrechtmäßig beschnitten worden. Er
       müsse freigelassen werden. Die Entscheidung ging zurück an die Strafkammer
       in Istanbul, die Atalay verurteilt hatte und dessen Freilassung sofort
       hätte verfügen müssen. Doch die Strafrichter weigerten sich, der Anordnung
       des Verfassungsgerichts nachzukommen und reichten das Problem an das
       oberste Berufungsgericht für Strafsachen, Yargetay weiter. Die
       Yargetay-Richter befanden, das Verfassungsgericht habe die Verfassung
       gebrochen und die Richter müssten angeklagt werden.
       
       ## Kampfansage an das Gericht
       
       Diese Entscheidung ist eine Kampfansage an das Verfassungsgericht und in
       der türkischen Rechtsgeschichte beispiellos. Die Entscheidung der
       Yargetay-Richter am Mittwochabend fiel am selben Tag, an dem das türkische
       Außenministerium einen Bericht der EU-Kommission, in dem Demokratiedefizite
       beklagt werden, empört zurückwies.
       
       Tatsächlich hat das Vorgehen der Yargetay-Richter einen politischen
       Hintergrund. Sowohl die Regierungspartei AKP als auch ihr Koalitionspartner
       MHP schießen sich seit Längerem auf das Verfassungsgericht ein, weil die
       Verfassungsrichter eine der letzten Instanzen sind, die einem Umbau des
       Staates im Sinne von Präsident Erdoğan noch im Weg stehen.
       
       Erdoğan hat wiederholt angekündigt, die Verfassung grundlegend ändern und
       auch die „Ewigkeitsartikel“ wie die Festlegung, die Türkei sei ein
       laizistischer Staat, abschaffen zu wollen. Dem stünde das
       Verfassungsgericht im Weg. MHP-Chef Bahceli hat mehrmals gefordert, das
       Verfassungsgericht zunächst ganz abzuschaffen.
       
       Derweil sitzt Atalay in Haft und wird seinen Sitz im Parlament, sobald
       nicht einnehmen können. Zudem haben die Yargetay-Richter gefordert, ihm den
       Abgeordnetenstatus auch formal abzuerkennen.
       
       9 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Tuerkische-Opposionspartei-CHP/!5970882
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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