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       # taz.de -- Kommunen vor dem Flüchtlingsgipfel: Niedersächsischer Optimismus
       
       > In Hannover will man weiterhin sagen: Wir schaffen das. Die Stadt will
       > bis Ende des Jahres eine Bezahlkarte für Geflüchtete einführen.
       
   IMG Bild: Soll sich nicht wiederholen in Hannover: Zelte in den Messehallen, hier im März 2022
       
       Hannover taz | Wenn es eine Stadt gibt, die immer noch sagt „Wir schaffen
       das“, dann ist es Hannover. Als „Scheinlösungen“ bezeichnet der grüne
       Oberbürgermeister Belit Onay das, was derzeit bundesweit an Lösungen
       debattiert wird. Die Debatten über eine Obergrenze für Geflüchtete, über
       mehr Abschiebungen und eine Arbeitspflicht, wie sie zuletzt unter anderem
       der Deutsche Landkreistag forderte, gehen an der Realität in vielen
       Kommunen vorbei, kritisiert er.
       
       Was die Kommunen wirklich bräuchten, seien eine rasche und transparente
       Weitergabe finanzieller Mittel von Bund und Ländern, Bürokratieabbau – und
       endlich die versprochene Digitalisierung der Ausländerbehörden. Die war
       schon beim [1][Flüchtlingsgipfel mit Kanzler Olaf Scholz (SPD)] Anfang des
       Jahres ein großes Thema, passiert sei aber wenig. „Wir müssen aufpassen,
       dass wir den Streit um Finanzierungsfragen jetzt nicht auf dem Rücken der
       Betroffenen austragen“, sagt Onay.
       
       In Sachen Bürokratieabbau wird in Hannover seit längeren eine „Sozialkarte“
       diskutiert. Das sei nicht zu verwechseln mit der Umstellung von
       Geldzahlungen, die Geflüchtete derzeit nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
       bekommen, auf Sachleistungen, wie es vielfach gefordert werde, betont der
       Onay. Vielmehr will Hannover eine Debitkarte einführen, mit der
       Geflüchtete, aber auch andere Sozialleistungsempfänger ohne eigenes Konto,
       an der Supermarktkasse zahlen oder ihren Regelsatz am Geldautomaten abheben
       können. Hannover will diese Karte bereits bis Ende des Jahres einführen.
       
       „Das verschlankt und entbürokratisiert den Auszahlungsprozess erheblich und
       eröffnet neue Wege für soziale Teilhabe“, sagt Sozialdezernentin Sylvia
       Bruns (FDP). Bisher mussten diese Menschen jedes Mal am Anfang des Monats
       Schlange stehen, um den Auszahlungsschein der Behörde bei der Sparkasse
       einzulösen. Auch der Städte- und Gemeindebund hat sich inzwischen [2][vor
       dem Bund-Länder-Gipfel für eine bundweit einheitliche Bezahlkarte] – eine
       Art Giro- oder Debitkarte – ausgesprochen.
       
       Bei der Unterbringung der Geflüchteten will man nicht, wie im vergangenen
       Jahr, als viele Geflüchtete aus der Ukraine kamen, auf Zeltstädte in
       Messehallen zurückgreifen müssen. Stattdessen versucht die Stadt es mit
       einem mehrstufigen System aus großen Notunterkünften, zum Beispiel in
       leerstehenden Schulen oder in der alten Feuerwache. Von da sollen die
       Geflüchteten möglichst rasch umziehen in kleinere Gemeinschaftsunterkünfte
       im gesamten Stadtgebiet, dann in Wohnprojekte oder in eigene Wohnungen.
       
       Deshalb ist die Frage nach Kapazitäten oder Kapazitätsgrenzen aber auch
       nicht so leicht zu beantworten: Ständig werden neue Immobilien gesucht und
       hergerichtet oder sogar neu gebaut, alte dagegen abgestoßen. Vor allem
       provisorisch hergerichtete Gewerbeimmobilien sind kostenmäßig oft ein
       Albtraum, sagt ein Fachmann aus dem Bereich Unterbringung. Sie seien
       schlecht beheizbar und entsprächen oft nicht den Brandschutzbestimmungen,
       so dass mehr Sicherheitsleute eingesetzt werden müsse, um als Brandwache zu
       fungieren. Weil sie auch bei Leerstand hohe Kosten produzierten, versuche
       man sie schnell wieder loszuwerden.
       
       Aktuell sind die städtischen Unterkünfte zu 91 Prozent belegt, sagt die
       Sozialdezernentin. 6.068 geflüchtete Personen sind in städtischen
       Unterkünften untergebracht, nur 1.270 von ihnen sind Ukrainer*innen. Die
       erneute Landeszuweisung von 823 Geflüchteten in den nächsten sechs Monaten
       sei eine Herausforderung, aber zu bewältigen. Allerdings, räumt der
       Oberbürgermeister ein, gerate das System da ins Stocken, wo der angespannte
       Wohnungsmarkt dafür sorgt, dass die Menschen länger in den Unterkünften
       bleiben müssten, als eigentlich gewünscht. Eigentlich strebt man nämlich
       eine Verweildauer von maximal zwei bis drei Wochen an, das lässt sich aber
       nicht mehr überall halten.
       
       Deshalb plant man nun auch in Hannover eine große Notunterkunft aus
       Leichtbauhallen. Die haben aus der Sicht der Stadt den Vorteil, dass sie
       eher einer festen Behausung gleichen als Zelte – aber gleichzeitig
       flexibler belegt und je nach Bedarf erweitert oder eingelagert werden
       können.
       
       Aus der Sicht mancher Flüchtlingshelfer sind viele Probleme in den
       überlasteten Kommunen hausgemacht. Die jeweils zuständige Ausländerbehörde
       könne beispielsweise relativ leicht für Entlastung sorgen, in dem man
       Duldungen längerfristig gestalte und Arbeitsgenehmigungen großzügiger
       erteile – statt die Leute zu zwingen, alle paar Monate erneut
       vorzusprechen, glaubt Frank Steinlein vom Unterstützerkreis
       Flüchtlingsunterkünfte.
       
       Tatsächlich hat das Bundeskabinett vergangene Woche Regelungen beschlossen,
       die es Geflüchteten mit einer Duldung erleichtern soll, Arbeit zu finden.
       Bisher konnte jede Ausländerbehörde eigenmächtig darüber entscheiden, ob
       sie überhaupt eine Arbeitserlaubnis bekommen. Geduldete sind Geflüchtete,
       die zwar ausreisepflichtig sind, aber nicht abgeschoben werden können –
       etwa, weil sie krank sind oder keine Papiere haben. Asylbewerber im
       laufenden Verfahren sollen zudem schon nach sechs Monaten, statt wie bisher
       erst nach neun Monaten, auf Jobsuche gehen dürfen.
       
       Ein weiteres Problem sind aus Sicht der Flüchtlingshelfer allerdings die
       bürokratischen Wohnsitzauflagen, erzählt Steinleins Vorstandskollege Reiner
       Melzer: „Wir hatten hier schon Fälle, wo ein junger Mann gezwungen war, zu
       seiner Ausbildungsstelle im Harz zu pendeln, weil er nicht umziehen durfte.
       Ein anderer musste seinen unterschriebenen Mietvertrag zurückgeben, weil
       die Wohnung kurz hinter der Stadtgrenze lag.“
       
       ## Salzgitter will gar nicht mehr aufnehmen
       
       Es gibt auch Kommunen, die überhaupt nicht mehr gewillt sind, Geflüchtete
       aufzunehmen. Salzgitter hat beispielsweise gerade wieder beim Land
       Niedersachsen eine Ausnahme von der Flüchtlingszuweisung erwirkt – als
       einzige Kommune in Niedersachsen. Denn Salzgitter hat viel günstigen
       Wohnraum und große ausländische Communities, die wiederum Nachzügler
       anziehen. Man befürchte deshalb die Entstehung von Parallelgesellschaften,
       sagt Oberbürgermeister Frank Klingebiel (CDU). Die Geflüchteten treffen in
       Salzgitter auf Engstellen in einer kaputt gesparten und vom
       Fachkräftemangel gebeutelten Infrastruktur in Schulen, Kitas und sozialen
       Einrichtungen.
       
       Dazu kommt die strukturelle Unterfinanzierung der Haushalte: Auch Hannover
       ist erst im August von der Kommunalaufsicht aufgefordert worden, mehr
       einzusparen. Die Stadt steuert auf ein dreistelliges Millionendefizit zu.
       Von den Kürzungen betroffen sind die freiwilligen Leistungen: Sportvereine,
       Kultureinrichtungen, Jugendzentren. Einrichtungen, die wiederum viel von
       dringend benötigter Integrationsarbeit auch für Geflüchtete leisten.
       
       6 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Nadine Conti
       
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