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       # taz.de -- Die Kunst der Woche: In die Rolle von Menschen
       
       > Kunst und Migration treten in der Galerie Deschler in Berlin und im
       > digitalen Raum in Beziehung. Zwei Ausstellungen, die zu kritischen Fragen
       > finden.
       
   IMG Bild: Sara Nabil, „The Lost Identities of Century“, 2016/2023, Installation
       
       Sara Nabil kam 2017 nach Deutschland. Die Politikstudentin hatte sich für
       ein Auslandssemester beworben und ein Visum für die Niederlande erhalten.
       So musste sie sich nicht über den Landweg und das Mittelmeer in Sicherheit
       bringen. „Ich bin im Krieg geboren und aufgewachsen und mein großes Ziel
       war es, nicht im Krieg zu sterben“, sagt die Künstlerin beim Artist Talk in
       der [1][Galerie Deschler]. Dieser Wunsch hat ihr Leben bestimmt und sie zur
       Kunst geführt. Bei Deschler ist noch bis Ende der Woche die Ausstellung
       „Lost in Transition“ mit Arbeiten von Deborah Sengl, Patricia Waller, Lies
       Maculan, Yukiko Terada und eben Sara Nabil zu sehen.
       
       Nabils Arbeit [2][„The Lost Identities of Century“] (2016/23) ist eine
       zweiteilige Installation. Ein gläsernes Wasserbecken dessen Boden mit Sand
       bedeckt ist, auf dem zerbrochenes Porzellan, ein Kronkorken, ein Stift und
       ein Kameragehäuse ohne Objektiv liegen, steht vor einer Wand, die mit
       aufgeschlagenen Pässen tapeziert ist. Einige Pässe zeigen ein Passfoto mit
       dazugehörigem Namen und einer Passnummer. Andere Pässe sind aber leer, ohne
       Foto und Namen. Aber auch sie haben eine Nummer: ein Versuch, einen
       Überblick über die Leichen zu bekommen, die im Meer und an den Stränden
       gefunden und anonym begraben werden.
       
       Deborah Sengl studierte Kunst und Biologie. Das erklärt, warum sie gerne
       Tiere in die Rolle von Menschen schlüpfen lässt. Wie jetzt in der Serie
       „Wer will mich?“, in der sie Hunde in orangefarbenen Schwimmwesten in der
       Rolle von Flüchtlingen zeigt. Die Serie aus Gemälden, Zeichnungen,
       Fotocollagen und einer Skulptur, irritiert. Darf man sich dem Drama im
       Mittelmeer auf diese Weise nähern? Ist das nicht kitschig? Oder gar
       zynisch? Oder ist es ein kluger Weg, den bekannten Opferbildern zu
       entkommen, ohne dem Thema auszuweichen?
       
       Die österreichische Künstlerin Lies Maculan konfrontiert die
       Besucher:innen mit lebensgroßen Fotoskulpturen der Mauer an der
       mexikanischen Grenze. Plötzlich sieht man sich ganz konkret in die Rolle
       der unerwünschten Einwanderin versetzt, die mit allen Mitteln aufgehalten
       und vertrieben werden muss. Eine verstörende Kunsterfahrung.
       
       Das Thema Migration ist derzeit wohl die wichtigste geopolitische
       Triebfeder, es treibt die Menschen weltweit um, sorgt für Streit, und die
       Aushöhlung des Asylrechts gefährdet die demokratische Ordnung in
       Deutschland und Europa. Es spricht für den Mut zum Risiko und die Neugier
       der Galerie Deschler, dass und wie sie das Thema aufgreift.
       
       ## Kunst unter Pseudonym
       
       Im Artist Talk bei Deschler machte Rechtsanwalt Michael Mai, Aktivist für
       verfolgte und bedrohte Künstler:innen, auf die Ausstellung [3][„Hidden
       Statement – Art in Afghanistan“] aufmerksam, die noch bis Ende nächsten
       Jahres über die Website des Nassauischen Kunstvereins Wiesbaden zu besuchen
       ist. Nach der Machtübernahme durch die Taliban ist das künstlerische
       Schaffen in Afghanistan nahezu zum Erliegen gekommen. Obwohl viele Werke
       zerstört wurden, existieren einige im Verborgenen weiter und Künstler und
       Künstlerinnen leisten Widerstand, indem sie trotz Verboten weiter
       künstlerisch arbeiten.
       
       Um sie wieder am internationalen Kunstdiskurs teilhaben zu lassen und ihren
       Werken wieder zu neuer Sichtbarkeit zu verhelfen, initiiert der
       [4][Nassauische Kunstverein] eine digitale Ausstellungsreihe mit
       Einzelausstellungen unter unterschiedlicher Kuration. Aus
       Sicherheitsgründen werden die ausstellenden Künstler:innen unter
       Pseudonym vorgestellt. Das Projekt wird unterstützt von der Villa Massimo
       in Rom, dem dortigen Goethe-Institut, der Hochschule für Gestaltung
       Offenbach, dem Institut für Raumkonzepte der Weißensee Kunsthochschule
       Berlin und Walter’s Cube in New York.
       
       Virtuell betritt man stuckverzierte Altbauräume, in denen Siah Qand
       großformatige Aquarelle in hellen, lichten Farben an die Wände gehängt hat.
       Per „Autowalk“ geht man durch die von Yama Rahimi kuratierten Räume und
       betrachtet die Bilder: „Dream“ eine Arbeit von 2022, zeigt die Köpfe zweier
       Mädchen, Schwestern wie man erfährt, die zusammen studierten und
       Ingenieurinnen werden wollten, aber in einem Bombenattentat starben.
       „Wings“ aus demselben Jahr handelt davon, dass die Mädchen jetzt weder zur
       Schule oder zur Arbeit gehen können. Sie wünschen sich daher Flügel, um
       wegzufliegen.
       
       Auch Gul, der oder die in modernistischen White Cube Räumen gezeigt wird,
       malt figurativ mit Aquarellfarben. Der Stil ist expressiv und die Farben,
       die er oder sie einsetzt, sind kräftig. Die große Sorgfalt mit der in
       „Generations“, 2015, das Gesicht der alten Frau gemalt ist, spricht von der
       absoluten Faszination der Künstler:innen für die menschliche Gestalt und
       besonders für das menschliche Gesicht. Von den Taliban als Motiv
       strengstens verboten, ist es anders als bei uns, wo es uns auf
       Werbeplakaten an jeder Straßenecke begegnet – völlig aus dem öffentlichen
       Raum verschwunden.
       
       Den Menschen dennoch ins Zentrum der künstlerischen Arbeit zu stellen,
       birgt ein enormes Risiko. Denn darin liegt der denkbar größte Akt des
       Widerstands gegen die Taliban, die nicht davor zurückschrecken, die
       Künstler:innen zu inhaftieren, zu schlagen und auch zu töten und ihre
       Werke zu zerstören. Umso größer ist der Mut von Golden Girl, die in
       ihrer:seiner von Jeanno Gaussi kuratierten Ausstellung Fotografien
       zeigt.
       
       „A Woman in the Imaginary Prison“, 2023, ist das Bild einer Frau im
       grellblauen Schador, von hinten aufgenommen. Ebenfalls von hinten
       fotografiert ist „Garbage Seller’s Child“, 2023, Vater und Sohn mit
       Müllsäcken auf dem Rücken auf der Suche nach verwertbarem Abfall. „Magic
       Eyes“, 2023, ein Jungenporträt in Großaufnahme, könnte in Anlehnung an
       Steve McCurrys berühmtes Foto vom „Mädchen mit den grünen Augen“ auch der
       „Junge mit den grünen Augen“ heißen.
       
       Glücklicherweise konnte Sharbat Gula, das grünäugige Mädchen,
       [5][Afghanistan 2021 mit Hilfe der italienischen Evakuierungsmission
       verlassen], nachdem die Taliban im August wieder die Macht übernommen
       hatten. Viele der ausgestellten Künstler:innen hoffen noch immer auf
       eine solche Gunst der Stunde. Menschen wie Michael Mai und die
       Kurator:innen, die die Einzelausstellungen zusammengestellt haben, setzen
       sich für ihre Rettung ein.
       
       9 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.deschler-berlin.de/
   DIR [2] https://www.deschler-berlin.de/news/4098/lost-in-transition/
   DIR [3] https://www.kunstverein-wiesbaden.de/ausstellungen/digital
   DIR [4] https://www.kunstverein-wiesbaden.de/home
   DIR [5] /Das-Afghan-Girl-Sharbat-Gula/!5825268
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
       ## TAGS
       
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